Öffentlichkeitsarbeit


Qualität von Leitlinien nach Systematik des nationalen Integritätssystems (NIS)

Transparency International Deutschland e.V., Juni 2016

Autor: Prof. Dr.Christoph Stein


Leitlinien sind systematisch entwickelte Hilfen zur Entscheidungsfindung in spezifischen medizinischen Situationen. Nach Darstellung der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) beruhen sie auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren.[1] Dies gilt sowohl für invasive (z. B. Medikamente, Operationen, Geräte) als auch für nicht-invasive (z. B. Verhaltenstherapie, Physiotherapie) Behandlungsverfahren.

 

Das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), eine gemeinsame Einrichtung von Bundesärztekammer (BÄK) und Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) zur Sicherung von Qualität und Wissenstransfer im Gesundheitswesen, und andere Organe geben dazu folgende Erklärungen:[2]

  • Leitlinien sind Handlungsempfehlungen für Ärzte. Im klinischen Alltag jedoch entscheiden Ärzte und Patienten gemeinsam über das individuell angemessene Vorgehen. Hochwertige Leitlinien sollen da- her die Patientenperspektive berücksichtigen.
  • Versorgungs-Leitlinien: Das Programm für Nationale Versorgungs-Leitlinien (NVL) ist eine gemeinsame Initiative von BÄK, KBV und AWMF zur Qualitätsförderung in der Medizin. Die operative Durchführung und Koordination des NVL-Programms erfolgt durch das ÄZQ.
  • Leitlinien-Grundlagen sind unter anderem Definitionen sowie Informationen zu rechtlichen Aspekten und der Beziehung zwischen Qualität und Wirksamkeit von Leitlinien.
  • Anwendung von Leitlinien: Leitlinien können nur dann wirksam werden, wenn ihre Empfehlungen im Alltag der Gesundheitsversorgung berücksichtigt werden. Zu diesem Zweck müssen Leitlinien durch praktikable Implementierungsverfahren ergänzt werden.
  • Leitlinien-Methodik: Leitlinien sollten systematisch, unabhängig und transparent und unter Verwendung geeigneter Qualitätskriterien von Arbeitsgruppen erarbeitet werden, die sich aus Fachleuten verschiedener Berufssparten zusammensetzen.
  • Im Gegensatz zu staatlich organisierten Leitlinienprogrammen in anderen Ländern erfolgt die Entwicklung von Leitlinien in Deutschland nach dem Prinzip der Subsidiarität meist (ehrenamtlich) durch medizinische Fachgesellschaften, gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit Patientenorganisationen und anderen Gesundheitsberufen.[3]
  • Die Berücksichtigung von Leitlinien durch Ärzte ist rechtlich nicht bindend.[4] In juristischen Auseinandersetzungen (z. B. Prozesse, Vergleiche) werden Leitlinien dennoch oft herangezogen und können erheblichen Einfluss auf gerichtliche Entscheidungen haben.
  • Leitlinien und Empfehlungen sollen zu vorteilhaften Behandlungsergebnissen führen, können jedoch solche Ergebnisse nicht garantieren.[5]
  • Leitlinien und Empfehlungen sollen regelmäßig revidiert und dem aktuellen Kenntnisstand der Wissenschaft, Technologie und Praxis angepasst werden.[5]
  • Leitlinien sind NICHT identisch mit Richtlinien/Beschlüssen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Der G-BA ist eine juristische Person des öffentlichen Rechts und wird aus Spitzenorganisationen der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen gebildet.[6] Gesetzliche Regelungen zu G-BA Richtlinien gelten NICHT für Leitlinien. Es gibt sehr viel mehr Leitlinien als G-BA Richtlinien.[5]

Bereits aus dieser kurzen Übersicht lässt sich erkennen, dass medizinische Leitlinien durch multiple Institutionen, Organe und unterschiedlichste Interessengruppen beeinflusst werden.

 

Vor diesem Hintergrund stellen sich unter anderem folgende Fragen:

  • Wie korruptionsanfällig ist die Erstellung von Leitlinien?
  • Wie ist der Begriff „Evidenz“ definiert? In welcher Form sollte „Evidenz“ im Rahmen von Leitlinien veröffentlicht werden (Literaturangaben, Primär- vs. Sekundärliteratur)?
  • Werden Leitlinien durch ein „clearing“-Verfahren (z. B. durch ÄZQ, IQWiG) bewertet?
  • Wie ist der Begriff „peer-review“ definiert?
  • Wie ist „wissenschaftlicher Sachverstand“ definiert?
  • Wie ist der Begriff „wissenschaftliche Fachgesellschaft“ definiert?
  • Wie aktuell sind Empfehlungen/Richtlinien zur Erstellung/Bewertung von Leitlinien?
  • Ist es erstrebenswert, medizinische Leitlinien in Zukunft grundsätzlich durch juristische Personen/Organe akkreditieren zu lassen (z. B. G-BA, IQWiG)?