Medizinische Begutachtung


Brief i.S. Behandlungsfehler


Priv. Doz. Dr. med. W. Berghoff
Facharzt für Innere Medizin

Telemannstraße 1
53359 Rheinbach, den 18.11.2013
Telefon 02226 - 2041
Telefax 02226 - 2044


Priv. Doz. Dr. med. Berghoff – Telemannstraße 1 – 53359 Rheinbach

 

Herrn Rechtsanwalt

Dr. H. Haack

Lotter Straße 108

49078 Osnabrück

nachrichtlich an:

XXX


2904/08/Hc/De XXX / Uni-Klinik MS
Gerichtsverhandlung am 14.11.2013


Sehr geehrte Herr Dr. Haack,


bei der Gerichtsverhandlung am 14.11.2013 wurden zahlreiche Problempunkte angesprochen, die bis dahin im Streitverfahren noch nicht berücksichtigt waren. Dies betrifft insbesondere die Tatsache, dass der Gutachter Prof. Müller im Rahmen der Erläuterung neue Behauptungen erhob, die den wissenschaftlichen Tatsachen nicht entsprechen.


Eine Diskussion dieser neu erwähnten Problempunkte hätte auf der Basis der Lehrmeinung bzw. der wissenschaftlichen Literatur erfolgen müssen. Dies war jedoch im Rahmen der Gerichtsverhandlung nicht möglich, da die Bearbeitung dieser Problemfragen die Sichtung der wissenschaftlichen Literatur voraussetzt.


Eine angemessene Klärung des Sachverhaltes hätte also erfordert, dass zu den neuen (zum größten Teil unzutreffenden) Behauptungen des Sachverständigen anhand der Literatur (!) hätte Stellung genommen werden müssen.


Die Sache wird erschwert, da das Gericht sein Urteil noch am Verhandlungstag fällte. Der Klägerseite blieb also keine Zeit, zu den zahlreichen Falschbehauptungen des Gutachters auf der Basis der Literatur Stellung zu nehmen.

Zudem wurde die Sache erschwert, da keine, oder zumindest keine ausreichende ärztliche Dokumentation vorlag. Inwieweit dieser Sachverhalt Auswirkungen auf Beweiserleichterung bzw. Beweislastumkehr ist eine juristische Angelegenheit. Der Einfachheit halber verweise ich auf Anlage 1.


Ich darf im Folgenden auf die wesentlichen bei der Gerichtsverhandlung neu eingebrachten Punkte und die Einlassungen des gerichtlich bestellten Gutachters eingehen.

 


1.
Bei der vorliegenden Problematik geht es ganz wesentlich um folgende Differentialdiagnose:


Postoperativer (so genannter physiologischer) Ileus vs. pathologischer Ileus


Nach jeder Operation kommt es normalerweise zu einem gewissen Grad eines postoperativen Ileus, auch bei nicht abdominellen chirurgischen Eingriffen. Dieser „normale“ physiologische postoperative Ileus im Bereich des Dünndarmes dauert jedoch in der Regel nur 0-24 Stunden (Anlage2, Seite 1).


Ein sekundärer pathologischer Ileus kann zwei Ursachen haben:

  • mechanisch
  • paralytisch

Im vorliegenden Fall ergab sich aufgrund der klinischen Daten lediglich die Differentialdiagnose gegenüber einem paralytischen Ileus.


Ein paralytischer Ileus ist immer bedingt durch Toxine von Bakterien, die aus dem Inneren des Magen-Darm-Traktes in die Bauchhöhle übertreten.


Bei einem prolongierten postoperativen Ileus (also Überschreitung von 24 Stunden) ist stets an eine pathologische Ursache (mechanischer oder paralytischer Ileus) zu denken.

Bei einem prolongierten postoperativen Ileus ist eine Röntgenaufnahme des Abdomen erforderlich (Anlage 2, Seite 4).


Die Röntgenaufnahme des Abdomens hat zwei Ziele:

  • Nachweis von Zeichen eines Ileus
  • Nachweis oder Ausschluss von freier Luft im Bauchraum

Eine solche abdominelle Untersuchung hätte also 24 Stunden nach ersten Zeichen eines postoperativen Ileus erfolgen müssen.


Bereits am 26.02.2008 lag Übelkeit vor. Am 27.02.2008 (erster postoperativer Tag) Schmerzen, Übelkeit und Erbrechen. Eine Röntgenuntersuchung des Abdomens hätte also spätestens am 27.02.2008 erfolgen müssen. Tatsächlich wurde die Röntgenuntersuchung erst etwa 36 Stunden später durchgeführt.


Erst recht hätte eine Röntgenuntersuchung am 28.02.2008 erfolgen müssen, als sich zunehmend ein schweres Krankheitsbild entwickelte.


Bei Nachweis von freier Luft ist sofortige operative Intervention erforderlich. Wie bereits in meiner medizinischen Stellungnahme vom 19.10.2012 dargestellt, ist die Prognose bei Perforation im Bereich des Magen-Darm-Traktes günstig, wenn innerhalb der ersten 6 Stunden nach Perforation chirurgisch gehandelt wird. Danach wird die Prognose zunehmend schlechter.

 

 

2.
Bei einem verzögerten postoperativen Ileus werden COX-2 Inhibitoren nicht eingesetzt. Die Wirkung ist umstritten, zudem sind die Nebenwirkungen zu beachten.


Dies zeigt sich insbesondere im vorliegenden Fall, bei dem Arcoxia (COX-2 Inhibitor) als Ursache eines perforierten Magengeschwürs mit höchster Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist (Anlage 2, Seite 7).

 


3.
Das CRP war am Operationstag mit 0,5 mg/dl normal. Am 27.02.2008 betrug der Wert bereits 9,2 mg/dl. Bei einem Wert von 10 mg/dl, also einem Wert, der nur geringfügig über dem tatsächlichen Wert von 9,2 mg/dl liegt, beträgt die Wahrscheinlichkeit einer bakteriellen Infektion 80%, bei 50 mg/dl bis zu 94%.


Am 28.02.2008 betrug das CRP 30,1 mg/dl. In dieser Situation war also mit einer Wahrscheinlichkeit von deutlich über 80% von einer bakteriellen Infektion auszugehen (Anlage 3, Seite 5).


Nach einer Operation ist eine leichte Erhöhung des CRP möglich, ein rascher und starker Anstieg des CRP muss jedoch stets als Hinweis auf eine bakterielle Infektion gelten. Bereits der Anstieg des CRP am ersten postoperativen Tag, d.h. am 27.02.2008, auf einen Wert von 9,2 mg/dl stellt einen raschen und ausgeprägten Anstieg dar und war daher nur auf eine bakterielle Infektion zu beziehen. Erst recht gilt dies für den CRP-Wert am 28.02.2008, für den ausschließlich eine bakterielle Infektion in Betracht kam.

 

 

4.
Vom Gutachter Prof. Müller wurde behauptet, dass Arcoxia zur Verhinderung von Ossifikation (Verknöcherung) der operativ-traumatisierten Muskulatur zum Einsatz kommt. Diese Behauptung ist falsch. Ein solcher Zusammenhang findet sich nicht in
der wissenschaftlichen Literatur. Entsprechend ist bei der Indikation des Medikamentes ein solcher Verwendungszweck auch nicht erwähnt.

 


5.
Arcoxia ist laut Zulassungsbestimmungen (durch die Zulassungsbehörde (BfArM, Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte)) für Patienten unter 16 Jahren nicht zugelassen. Bei dem Einsatz von Arcoxia handelte es sich also um einen Off-
Label-Use. Vor Anwendung des Medikamentes hätte das Einverständnis der Patientin bzw. der Eltern eingeholt werden müssen. Zudem hätten die Ärzte den Off-Label-Use begründen müssen. Ein Off-Label-Use ist nur erlaubt, wenn keine therapeutische Alternative zur Verfügung steht (Anlage 4).

Grundsätzlich muss beim Einsatz eines Medikamentes der Vorteil gegenüber dem Nachteil (unerwünschte Arzneimittelwirkung, Nebenwirkung) beachtete werden. Bei dem Einsatz von Arcoxia sind nur Nachteile, jedoch keinerlei Vorteile erkennbar.

 


6.
Der Gutachter Prof. Müller wies darauf hin, dass bei der lebensbedrohlichen Situation eines akuten Abdomens nicht, wie nach geltender Lehrmeinung gefordert, sofortige operative Intervention zu erwarten war, da oft kein Operationssaal zur Verfügung stünde, so dass sich Wartezeiten von einigen Stunden ergeben könnten.


Diese Behauptung ist falsch und absurd. In einer deutschen Universitätsklinik werden Notfälle stets sofort operativ behandelt. Falls sich herausstellen sollte, dass die Operation am 29.02.2008 durch Kapazitätsprobleme (kein zur Verfügung stehender Operationssaal) wesentlich verzögert wurde, wäre dieser Umstand rechtlich zu prüfen.


Erschwerend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass keine eindeutige ärztliche Dokumentation des hinzugezogenen kinderchirurgischen Konsiliarius vorliegt.

 


7.
Nach Ansicht des Gutachters Prof. Müller brauchten die Ärzte der orthopädischen Universitätsklinik nicht an ein akutes Abdomen, also an einen sekundär pathologischen Ileus (paralytischer Ileus) zu denken, da ein solches Ereignis sehr selten vorkomme. Die Missachtung einer lebensbedrohlichen Erkrankung im Rahmen der Differentialdiagnose, auch wenn sie selten vorkommt, stellt
selbstverständlich einen Verstoß gegen die ärztliche Sorgfaltspflicht dar.


Würde die Behauptung des Gutachters Prof. Müller den Tatsachen entsprechen, müsste ein Patient, der sich in einer orthopädischen Universitätsklinik in Deutschland operieren lässt, das Risiko in Kauf nehmen, dass eine seltene wenngleich lebensbedrohliche Erkrankung üblicherweise nicht berücksichtigt wird. Falls eine solche absurde Behauptung des Gutachters Prof. Müller überhaupt zu diskutieren ist, müsste im prä-operativen Aufklärungsgespräch auf diesen Umstand hingewiesen werden. Selbstverständlich erfolgte eine derartige Aufklärung im vorliegenden Fall nicht.

 


8.
Insbesondere behauptete der Gutachter Prof. Müller, dass die behandelnden Ärzte der orthopädischen Universitätsklinik an die Möglichkeit eines sekundären pathologischen Ileus, ein akutes Abdomen, ein perforiertes Magengeschwür und einen paralytischen Ileus nicht zu denken brauchten, da es sich um ein seltenes Vorkommnis handelt. Tatsächlich müssten operativ-tätige Ärzte, insbesondere Ärzte einer Universitätsklinik, selbstverständlich über bedrohliche Komplikationen bei operativen Eingriffen informiert sein. Falls sie einen Krankheitszustand nicht sicher beurteilen können, müssen sie auf entsprechende Hilfe zurückgreifen. Dies geschah durch die Hinzuziehung eines kinderchirurgischen Konsiliarius, allerdings mit einer Verspätung von etwa 2 Tagen. Die verzögerte Heranziehung des chirurgischen Konsiliarius stellt einen der wesentlichen Behandlungsfehler aller beteiligten Ärzte
der orthopädischen Universitätsklinik dar.

 


9.
Die Organisation im Hinblick auf das chirurgische Konsil, der Ablauf des Konsils und die gezogenen Schlussfolgerungen sind nicht eindeutig dokumentiert. Die Zusammenhänge bleiben weiterhin unklar.

 


10.
Bei der ersten Untersuchung durch den chirurgischen Konsiliarius wurde eine Röntgenaufnahme des Abdomen veranlasst. Dies impliziert, dass der chirurgische Konsiliarius u.a. abklären wollte, ob sich freie Luft im Abdomen befand. Eine solche Überlegung fordert sofortiges Handeln, das heißt die Röntgenaufnahme des Abdomens hätte umgehend angefertigt werden müssen. Der chirurgische Konsiliarius hätte so schnell wie möglich klären müssen, ob tatsächlich freie Luft im Abdomen vorlag, und umgehend eine chirurgische Intervention herbeiführen müssen. All diese Umstände wurden bei der Gerichtsverhandlung nicht eindeutig
geklärt.

 


11.
Der schwere und lang anhaltende post-operative Krankheitsverlauf spricht für eine weit vorangeschrittene prä-operative Krankheitsproblematik. Unter Einbeziehung der Literatur ist davon auszugehen, dass zwischen Auftreten des paralytischen Ileus
bzw. der Perforation des Magengeschwürs einerseits und der Operation andererseits ein weit größerer Zeitraum als 6 Stunden vorlag. Aufgrund der vorliegenden Daten, insbesondere des klinischen Bildes und der CRP-Werte, betrug die Dauer des akuten Abdomens (Ulcusperforation, paralytischer Ileus) prä-operativ wahrscheinlich zwei Tage.

 


12.
Die Schwere des prä-operativen Krankheitsbildes zeigt sich insbesondere auch in den Krankheitsfolgen (Verwachsungsbauch, Epilepsie), die Einzelheiten wären noch zu analysieren.

 


Mit freundlichen Grüßen

 


Verzeichnis der Anlagen:


Seite 2 Anlage 1
Seite 2 Anlage 2
Seite 4 Anlage 3
Seite 4 Anlage 4


Anmerkung: In meiner Akte befinden sich lediglich Arztbriefe, jedoch keine Originaldokumente, insbesondere was den Zeitraum 25.-29.02.2008 anbetrifft!