Medizinische Begutachtung


Erneute Stellungnahme Behandlungsfehler


Priv. Doz. Dr. med. W. Berghoff
Facharzt für Innere Medizin

Telemannstraße 1
53359 Rheinbach, den 29.10.2012
Telefon 02226 - 2041
Telefax 02226 - 2044


Priv. Doz. Dr. med. Berghoff – Telemannstraße 1 – 53359 Rheinbach

 

Herrn Rechtsanwalt

Dr. H. Haack

Lotter Straße 108

49078 Osnabrück


2904/08/Hc/De
XXX / Uni-Klinik MS
hier: Stellungnahme zum fachorthopädischen-fachchirurgischen Gutachten Prof. Dr. Müller, 13.09.12

 


Sehr geehrter Herr Dr. Haack,


entsprechend Auftrag vom 04.10.12 wird im Folgenden eine

 

medizinische Stellungnahme

 

zum fachorthopädischen-fachchirurgischen Gutachten Prof. Dr. Müller vom 13.09.12 abgegeben.


In der Sache liegt mein medizinisches Gutachten vom 18.05.09 und meine gutachterliche Stellungnahme vom 04.08.11 vor.


In dem folgenden Abschnitt „Vorbemerkungen“ werden die wesentlichen Punkte der medizinischen Problematik dargestellt und das 2008 postoperativ aufgetretene Krankheitsbild bei XXX auf der Basis geltender Lehrmeinung dargestellt.


Danach werde ich zu einzelnen Punkten des Gutachtens Prof. Müller Stellung nehmen.

 


Vorbemerkungen


Zunächst werden die Kernpunkte und nachfolgend die Einzelfakten der Problematik aufgelistet. Anschließend wird das Krankheitsbild eines gedeckt perforierten Magenhinterwandgeschwürs auf der Basis aktueller Literatur dargestellt.


Kernpunkte der Problematik

  • 26.02.08 Wirbelsäulenoperation (Korrektur Spondylodese)
  • Postoperativ gedecktes Magenhinterwandgeschwür
  • Verzögerte Diagnose und operative Behandlung der Magenperforation
  • Schwere bakterielle Peritonitis (Bauchverletzung) mit septischem Schock
  • Infolge Peritonitis und Schock zwei Monate anhaltende schwere Krankheitsbelastung

Einzeldaten

  • Die Akten enthalten keine ärztliche Dokumentation des Krankheitsverlaufes zwischen Wirbelsäulenoperation am 26.02.08 und Operation wegen perforiertem Magengeschwür und Bauchfellentzündung am 29.02.08
  • Einzige Informationsgrundlage über den Krankheitsverlauf zwischen dem 26. und 29.02.08 ist der Arztbrief vom 30.05.08
  • 26.02.08 Wirbelsäulenoperation (Spondylodese)
  • 26.02.08 (Operationstag):
    • Übelkeit
  • 27.02.08 (erster postoperativer Tag):
    • Schmerzen
    • Übelkeit
    • Erbrechen
  • 28.02.08 (zweiter postoperativer Tag):
    • Zunehmende Wassereinlagerung (Positivbilanz)
    • Abdomen gebläht
    • Darmgeräusche in allen Quadranten spärlich
    • Übelkeit
    • Fieber bis 38 Grad Celsius
    • Tachykardie 120 / Minute
    • Leichte Abwehrspannung
    • Vermehrte Wassereinlagerung
    • (Oberarztvisite 16:00 Uhr) Darmgeräusche spärlich über vier Quadranten vorhanden
    • Einsatz von Lasix (zur Entwässerung)
    • Anforderung Röntgenaufnahme des Bauches (Abdomenübersicht)
  • 29.02.08 (dritter postoperativer Tag):
    • Abdominelle Abwehrspannung
    • Darmgeräusche spärlich
    • Empfehlung von Abführmitteln
    • Vermehrte Wassereinlagerung
    • Einsatz von Lasix (zur Entwässerung)
    • 08:00 Uhr Kinderchirurgisches Konsil: Empfehlung: Klysma, bei Unwirksamkeit Dulcolax
    • Durchführung Röntgenuntersuchung Abdomen (Abdomenübersicht)
    • (28.02.08 23:16 Uhr Veranlassung der Abdomenaufnahme, 29.02.08 12:34 Durchführung der Röntgenaufnahme)
    • 07:00 Uhr: Abwehrspannung
    • 12:34 Uhr Abdomenübersicht, massiv freie abdominelle Luft

Laborbefunde:
(CRP, Leukozyten)


CRP-Werte:
25.02.08 Normwert (< 0,5 mg/dl)
27.02.08 9,2
29.02.08 30,1
29.02.08 45,2


Leukozytenzahl:
25.02.08 5.600 (Normwert)
27.02.08 9.200 (noch im Normbereich)
28.02.08 12.340 (Norm 10.000)
29.02.08 7.150 (Abfall infolge beginnenden septischen Schocks, Anm. Dr. Berghoff)


Medikation:
Ab dem 27.02.08 (erster postoperativer Tag) Einsatz von Arcoxia 90 mg, Nebenwirkungen laut Beipackzettel: Magengeschwüre.


Klinischer Verlauf:
Die klinischen Daten sowie die Laborbefunde zeigen eine stetige Progredienz eines akuten Abdomens vereinbar mit einem perforierten Magenhinterwandgeschwür und Bauchfellentzündung, wie dies tatsächlich vorlag.


Darstellung des Krankheitsbildes in der Literatur
(Gedeckte Perforation Magenhinterwandgeschwür)


Die folgende Darstellung basiert auf UpToDate, einem international anerkannten fachmedizinischen Nachschlagewerk (Anlage 1).


Bei gedeckter Perforation können die Symptome sehr viel geringer ausgeprägt sein, insbesondere bei Perforation im Bereich der Hinterwand ist die Symptomatik weniger dramatisch. Die Bauchschmerzen zeigen eine eher allmähliche Entwicklung, die Ausprägung ist verzögert und die abdominelle Untersuchung oft vage.


Symptomatik des perforierten Magengeschwürs:

  • Bauchschmerzen
  • Abwehrspannung
  • Abdomineller Druckschmerz (bei Untersuchung)
  • Fieber
  • (Sinngemäß): Flüssigkeitseinlagerung
  • Diagnose stützt sich im Wesentlichen auf Anamnese und körperlichen Untersuchungsbefund
  • Nachweis freier Luft durch Abdomenübersicht
  • Häufigste Ursache eines Magengeschwürs: nicht-steroidale Antirheumatika (u.a. Arcoxia)

Anmerkung: Fortschreitende Peritonitis und Verzögerung der notwendigen Laparotomie um mehr als 12 Stunden erhöhen das Risiko von Morbidität und Mortalität. Dagegen ist die Prognose bei Intervention innerhalb von 6 Stunden sehr günstig.

 


Detaillierte Stellungnahme zum Gutachten Prof. Müller


Im Folgenden wird zu verschiedenen Textpassagen des Gutachtens von Prof. Müller Stellung genommen. Die Textpassagen werden durch fortlaufende Randziffern gekennzeichnet. Die Inhalte werden zunächst zitiert (Zitat) und unmittelbar danach kritisch kommentiert (Stellungnahme). Der mit Randziffern versehene Text wird als Anlage 2 der vorliegenden medizinischen Stellungnahme beigefügt.

 


1.


(Zitat)
Am ersten postoperativen Tag Schmerzen, Übelkeit, Erbrechen. Wegen starker Rückenschmerzen Schmerzmitteldosis vom Schmerzdienst mehrfach erhöht. Einlagerung von 2,3 Litern Flüssigkeit.


(Stellungnahme)
Aus den ärztlichen Dokumenten ergibt sich nicht, dass zu diesem Zeitpunkt eine ärztliche Untersuchung erfolgte (es existiert überhaupt keine ärztliche Dokumentation zwischen dem 26.02.08 (Operationstag) und dem 29.02.08 (Laparotomie). Es bleibt
also unklar, was mit „Schmerzdienst“ gemeint ist und ob eine ärztliche Analyse der zunehmenden Schmerzen erfolgte. Unklar bleibt auch, welche Ursache von den betreuenden Ärzten für die Einlagerung von 2,3 Liter Flüssigkeit angenommen wurde.
Die genannten Symptome und Phänomene am ersten postoperativen Tag sind bereits vereinbar mit einem gedeckt perforierten Magenhinterwandgeschwür.

 


2.


(Zitat)
Am zweiten postoperativen Tag Übelkeit, mögliche Affektion der Lunge bei leichter Temperaturerhöhung, weiter bestehende Schmerzen, Zunahme der Flüssigkeitseinlagerungen.


(Stellungnahme)
Auch zu dieser Situation gibt es keine ärztliche Dokumentation. Laut Eintrag in der Tageskurve stellte sich die klinische Situation am zweiten postoperativen Tage wie folgt dar: Übelkeit, Lasix Dosis auf 2 x 20 mg erhöht, 12:45 Fieber 38 Grad, Tachykardie 120 / Minute, 16:00 Uhr Oberarztvisite: Atemgeräusche regelrecht, Darmgeräusche spärlich.


Die klinische Situation mit anhaltender Übelkeit, zunehmender Wassereinlagerung, Fieber und erheblicher Erhöhung der Herzfrequenz (Tachykardie 120 / Minute) wurde also ärztlich nicht analysiert.

 


3.


(Zitat)
Am dritten postoperativen Tag bei der Morgenvisite abdominelle Abwehrspannung. Ein kinderchirurgisches Konsil empfahl ein Klysma. Röntgenaufnahmen zeigten freie Luft im Bauchraum.


(Stellungnahme)
Am dritten postoperativen Tag erfolgte bereits um 08:00 Uhr morgens (!) ein kinderchirurgisches Konsil. Dabei wurde offensichtlich die abdominelle Abwehrspannung nicht festgestellt oder nicht gewürdigt, der Konsiliararzt verordnete ein Klysma und bei Nichtwirken Dulcolax. Die therapeutische Konsequenz des kinderchirurgischen Konsils war also Abführmaßnahme. Eine diagnostische Analyse
wurde nicht veranlasst und dass trotz des Krankheitsverlaufes und der stetig sich verschlechternden Labordaten und der zunehmenden Flüssigkeitseinlagerung.


Die röntgenologische Abdomenübersicht war bereits am Abend des zweiten postoperativen Tages, d.h. am 28.02.08 um 23:16 Uhr veranlasst worden, wurde jedoch erst am nächsten Tag um 12:34 Uhr durchgeführt, d.h. zwischen Veranlassung und Durchführung der Röntgenuntersuchung liegen mehr als 12 Stunden. Die Abdomenübersicht zeigte massiv (!) freie abdominelle Luft.


Am dritten postoperativen Tag wurde um 07:00 Uhr bei der Frühvisite eine abdominelle Abwehrspannung bei spärlichen Darmgeräuschen festgestellt. Um 08:00 Uhr wurde ein kinderchirurgisches Konsil angefordert, das am gleichen Tage
erst um 12:00 Uhr durchgeführt wurde. Zwischen der Feststellung der abdominellen Abwehrspannung dem chirurgischen Konsil liegen also fünf (!) Stunden.


Der kinderchirurgische Konsiliarbericht lautet: Zunehmende Verschlechterung des Allgemeinzustandes, Abdomen vorgewölbt, peritonitisch, keine Peristaltik auskultierbar, Laborwerte mit ansteigenden Entzündungsparametern, Röntgen Abdomen: freie intraabdominelle Luft. Therapievorschlag: Heute Laparotomie. Gezeichnet Dr. Koch.


Der Konsiliarbericht enthält also die Zeitangabe 12:00 Uhr, während für die abdominelle Röntgenaufnahme der Zeitpunkt 12:34 Uhr angegeben wird, also bei Zugrundelegung dieses Zeitpunktes noch nicht Gegenstand des Konsiliarberichtes sein konnte.


Besonders diese Situation am dritten postoperativen Tag macht die mangelnde Sorgfalt der betreuenden Ärzte deutlich: Gegen 07:00 Uhr werden bei der Frühvisite Zeichen eines akuten Abdomens festgestellt, gegen 08:00 Uhr wird ein kinderchirurgisches Konsil beantragt, das kinderchirurgische Konsil erfolgt um 12:00 Uhr, die entscheidende diagnostische Maßnahme, nämlich die abdominelle Übersicht erfolgt um 12:34 Uhr.

 


4.


(Zitat)
Der postoperative Verlauf (nach Laparotomie, Anm. Dr. Berghoff) war unauffällig. Die abdominellen Befunde ließen sich unschwer als operationsbedingte Darmatonie einordnen.


(Stellungnahme)
Es ist unverständlich, dass der Gutachter Prof. Müller an dieser Stelle nicht darauf hinweist, dass auch die ausgeprägte Peritonitis als Ursache einer Darmatonie in Betracht kommt. Auch erwähnt er mit keinem Wort den langwierigen und problematischen Krankheitsverlauf nach Laparotomie.

 


5.


(Zitat)
Der CRP- und Leukozytenanstieg am 28.02.08 konnte ein Hinweis auf eine sich anbahnende Komplikation sein. In erster Linie war an eine anlaufende Wundinfektion oder eine Entzündung im Bereich der Lunge oder der Harnwege zu denken.


(Stellungnahme)
Eine Wundinfektion mit derart hochgradigen Entzündungswerten wäre durch körperliche Untersuchung unschwer feststellbar gewesen. Eine Entzündung im Lungenbereich lässt sich durch Röntgenaufnahme sofort belegen oder ausschließen, ein Harnwegsinfekt ist durch Untersuchung des Harnsediments sofort diagnostizierbar.


Offensichtlich wurden diese von Prof. Müller diskutierten Möglichkeiten der erhöhten Entzündungsparameter (CRP-Anstieg, Leukozytenvermehrung) von den betreuenden Ärzten ausgeschlossen. Entscheidend ist jedoch die Tatsache, dass bei der Ursache für den klinischen Verlauf und für den Anstieg der Entzündungsparameter (CRP, Leukozyten) die Peritonitis als wichtige differentialdiagnostische Möglichkeit zunächst unberücksichtigt blieb.

 


6.


(Zitat)
Am 28.02.08 lagen weiche Bauchdecken und fehlende Abwehrspannung vor, so dass sich zu diesem Zeitpunkt keine weitere Diagnostik aufdrängte.


(Stellungnahme)
Zunächst sei darauf hingewiesen, dass am 28.02.08 bei der Morgenvisite um 07:00 Uhr folgende Probleme vorlagen:

  • Übelkeit
  • Notwendige Dosiserhöhung des diuretischen Medikamentes Lasix
  • Fieber 38 Grad
  • Tachykardie 120 / Minute

Zudem erfolgte am gleichen Tag gegen 16:00 Uhr Oberarztvisite. Zu diesem Zeitpunkt standen die Laborwerte zur Verfügung, nämlich ein inzwischen drastischer Anstieg des CRP auf 30,1 (!) und der Leukozyten auf 12.340 (!).


Schließlich ist zu beachten, dass am gleichen Tag, am 28.02.08 am späten Abend eine Röntgenuntersuchung des Abdomens veranlasst wurde.


Es ist daher unverständlich, dass der Vorgutachter Prof. Müller in dieser dramatischen Situation keine Notwendigkeit für eine weitere Diagnostik sah („zu diesem Zeitpunkt drängte sich keine weitere Diagnostik auf“).

 


7.


(Zitat)
Am 29.02.08 erstmalig Abwehrspannung, die zur Beiziehung des Kinderchirurgen führte. Ablesbar an der dokumentierten Fragestellung dachten die Behandler wohl an einen Ileus (Darmlähmung, Anm. Dr. Berghoff).


(Stellungnahme)
Wie bereits oben dargestellt war der zeitliche Ablauf wie folgt:
07:00 Uhr Feststellung einer Abwehrspannung
08:00 Uhr Anforderung einer kinderchirurgischen Konsiliaruntersuchung
12:00 Uhr Kinderchirurgische Konsiliaruntersuchung
12:34 Uhr Röntgen Abdomen
Kinderchirurgischer Konsiliarbericht: Akutes Abdomen, sofortige Operation.


An dieser Stelle des Gutachtens von Prof. Müller wird dessen fragwürdige Argumentation besonders deutlich:


Er geht davon aus, dass Diagnostik im Hinblick auf ein akutes Abdomen oder Peritonitis erst erfolgen muss, wenn eine Abwehrspannung vorliegt. Alle sonstigen Fakten, d.h. der progrediente klinische Krankheitsverlauf, die zur Peritonitis
passende Symptomatik und die stetig ansteigenden Entzündungsparameter bleiben unberücksichtigt. Darüber hinaus wird die Notwendigkeit zur Differentialdiagnose verneint; Prof. Müller bringt zum Ausdruck („weitere Diagnostik hätte sich nicht aufdrängen müssen“), dass eine differentialdiagnostische Analyse nicht geboten war, d.h. die betreuenden Ärzte waren nicht gehalten, über alle (!) Ursachen für die vorliegenden Symptome und Befunde nachzudenken und entsprechend diagnostisch zu handeln.


Die Ansicht von Prof. Müller, dass bei fehlender Abwehrspannung keine Diagnostik im Hinblick auf Peritonitis und einer postoperativen Magenulcusperforation erforderlich war, entspricht nicht der Lehrmeinung.


Im Abschnitt „Vorbemerkungen“, Seite 2 ff. wurde die Symptomatik eines gedeckt perforierten Magenhinterwandulcus dargestellt. In der zitierten Literatur wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die abdominelle Untersuchung häufig vage ist.


Die betreuenden Ärzte haben das klinische Bild, den stetigen Anstieg der Entzündungsparameter und die tatsächlich vorliegende gedeckte Perforation eines Hinterwandmagenulcus verkannt. Ursache der fehlerhaften Diagnostik war offensichtlich die Unkenntnis des Krankheitsbildes (gedeckt perforiertes Magenhinterwandulcus) und die Missachtung des progredienten klinischen Krankheitszustandes und des stetigen Anstiegs der Entzündungsparameter.


Ein weiterer Grund war die Vernachlässigung der Differentialdiagnose, d.h. die Ärzte haben nicht die gebotene Diagnostik durchgeführt, um alle in Betracht kommenden Ursachen, insbesondere auch eine Ulcusperforation bzw. Peritonitis zu überprüfen.

 


8.


(Zitat)
Letztendlich fehlte für die Orthopäden wahrscheinlich eine Symptomatik, anhand derer sie an ein von der orthopädischen Behandlung unabhängiges Krankheitsbild im Abdomen denken mussten. Dies dürfte daran gelegen haben, dass sich die
subjektive Symptomatik der möglicherweise zunächst gedeckt eingetretenen Hinterwandperforation des Magens mit dem Operationsgebiet überlagerte.


(Stellungnahme)
Sinngemäß wird also zum Ausdruck gebracht, dass den Orthopäden „eine Symptomatik fehlte“, die sie an ein fachfremdes Krankheitsbild im Abdomen hätte denken lassen müssen.


Es wäre jedoch mit der ärztlichen Sorgfaltspflicht nicht vereinbar, dass Unkenntnis über ein fachfremdes Krankheitsbild zur Unterlassung notwendiger diagnostischer Maßnahmen führt. Aufgrund der progredienten klinischen Symptomatik und dem
stetigen Anstieg der Entzündungsparameter hätten die Orthopäden rechtzeitig eine diagnostische Abklärung herbeiführen müssen und zwar durch Hinzuziehung eines anderen Facharztes, wie dies schließlich aber verspätet durch das kinderchirurgische Konsil am 29.02.08 geschah. Die bis zum 29.02.08 unterlassene diagnostische Abklärung des progredienten Krankheitsverlaufes und der stetig
zunehmenden Entzündungsparameter widersprach der ärztlichen Sorgfaltspflicht.

 


9.


(Zitat)
Bei dem Anstieg von CRP und Leukozyten wurde an eine Affektion der Lunge gedacht.


(Stellungnahme)
Die Beschwerdesymptomatik passte nicht zu einer „Affektion der Lunge“, es bestanden keinerlei Symptome einer Bronchitis oder Lungenentzündung, sondern vielmehr abdominelle Beschwerden, die mit Affektion der Lunge selbstverständlich nichts zu tun haben.

Entscheidend ist jedoch, dass eine „Lungenaffektion“ durch eine Thoraxaufnahme in kürzester Zeit hätte ausgeschlossen werden können.

 


10.


(Zitat)
Eine objektiv falsche Diagnose wurde ab dem 26.02.08 nicht gestellt. Letztlich wurde mit der Abklärung naheliegender Ursachen begonnen.


(Stellungnahme)
Es ist unklar, was der Gutachter Prof. Müller mit „naheliegende Ursachen“ meint. Allein entscheidend ist, dass das Krankheitsbild eines gedeckt perforierten Ulcus der Magenhinterwand mit nachfolgender Peritonitis erst mit erheblicher Verzögerung und
offensichtlich zufällig festgestellt wurde. Anders ist es nicht zu verstehen, dass der kinderchirurgische Konsiliarius zur Behandlung des abdominellen Krankheitsbildes zunächst Abführmittel verordnete.


Eine entsprechende Diskrepanz besteht auch zwischen der Behandlungsempfehlung „Abführmittel“ und dem Inhalt des kinderchirurgischen Konsiliarberichtes.

 

Der Einfachheit halber sei an dieser Stelle noch einmal der Inhalt des Konsiliarberichtes wiederholt:
„Kinderchirurgischer Konsiliarbericht: Zunehmende Verschlechterung des Allgemeinzustandes, Abdomen vorgewölbt, peritonitisch, keine Peristaltik auskultierbar, Laborwerte mit ansteigenden Entzündungsparametern, Röntgen Abdomen: freie intraabdominelle Luft, Therapievorschlag: Heute Laparotomie. Gezeichnet Dr. Koch“.

 


11.


(Zitat)
Ausgehend von einer fehlenden Abwehrspannung waren am 28.02.08 um 16:00 Uhr weitere Befunde nicht zu erheben.


(Stellungnahme)
Auch an dieser Stelle übergeht der Gutachter Prof. Müller zahlreiche Symptome und Befunde:

  • Übelkeit
  • Vermehrte Wassereinlagerung
  • Notwendige Erhöhung der Lasix-Dosis
  • Fieber 38 Grad Celsius
  • Rascher Herzschlag (Tachykardie 120 / Minute)
  • Hohe Werte für Leukozyten und CRP

Es lag also am 28.02.08 ein Krankheitsbild mit erheblicher Beschwerdesymptomatik und hohen Entzündungsparametern vor, das auch „bei fehlender Abwehrspannung“ eine konsequente umgehende Diagnostik erfordert hätte.

 


Zusammenfassung und Beurteilung

Am 26.02.08 erfolgte eine belastende Operation (Spondylodese). Postoperativ entwickelte sich ein Ulcus im Bereich der Magenhinterwand. Ursache war der operative Stress und das Ulcus-fördernde Medikament Arcoxia.


Wahrscheinlich handelte es sich zunächst um eine gedeckte Perforation des Magengeschwürs mit einer entsprechend weniger dramatischen Krankheitsausprägung als bei freier Perforation.


Bereits ab dem ersten postoperativen Tag, spätestens jedoch am zweiten postoperativen Tag hätte bei der klinischen Symptomatik und dem drastischen Anstieg der Entzündungsparameter (CRP, Leukozyten) differentialdiagnostisch an einen entzündlichen Prozess im Bauchraum gedacht werden müssen. Eine entsprechende Diagnostik erfolgte jedoch mit einer Verzögerung von etwa zwei Tagen, die Folge war ein über zwei Monate anhaltendes schweres Krankheitsbild.


Die Verzögerung der Diagnostik und Behandlung des perforierten Magenulcus verstößt gegen die ärztliche Sorgfaltspflicht und stellt einen Behandlungsfehler dar.


Bezüglich der sonstigen Einzelheiten sei auf das medizinische Gutachten vom 08.05.09 und die gutachterliche Stellungnahme vom 04.08.11 verwiesen.

 


Fazit


Der Tenor des Gutachtens Prof. Müller enthält zwei Kardinalpunkte:

  • Die betreuenden Ärzte (Orthopäden) haben das fachfremde Krankheitsbild der Magenulcus-Perforation (offensichtlich) nicht rechtzeitig erkannt
  • Die betreuenden Ärzte haben jedoch rechtzeitig alle diagnostischen Maßnahmen zur Klärung der Krankheitsproblematik eingeleitet

Prof. Müller rechtfertigt die nicht rechtzeitige Erkennung der Ulcusperforation mit der Tatsache, dass zeitgerecht diagnostische Schritte zur Klärung der klinischen Situation eingeleitet wurden.

 

Tatsächlich war das Krankheitsbild jedoch spätestens am zweiten postoperativen Tag erkennbar, die betreuenden Ärzte haben die Situation jedoch verkannt und keine Hilfe von anderem Fachgebiet hinzugezogen.


Die eingeleiteten diagnostischen Maßnahmen waren in ihrem Aufwand gering und hätten in kürzester Zeit (eine Stunde) durchgeführt werden können. Dies gilt insbesondere für die Röntgenuntersuchung des Abdomens.


Die Hinzuziehung des kinderchirurgischen Konsiliarius erfolgte deutlich verspätet.


Der kinderchirurgische Konsiliarius verordnete Abführmittel, ein Hinweis darauf, dass er offensichtlich eine krankhaft träge Darmtätigkeit annahm, also einen Ileus bzw. Subileus, der in der gegebenen Situation nur als paralytischer Ileus zu verstehen
war. Unter einem paralytischen Ileus wird eine Darmlähmung durch Gifte bei Bauchfellentzündung verstanden, wie dies sich bei der Patientin bei der nachfolgenden Operation herausstellte.


Ein ungünstiges Licht auf die ärztliche Betreuung ergibt sich spätestens aus dem Verlauf ab dem zweiten postoperativen Tag. Am Abend dieses Tages wurde eine Abdomenübersicht veranlasst. Der Grund für diese Untersuchung ist den Akten nicht zu entnehmen. Auch ergibt sich keinerlei Hinweis auf die Dringlichkeit dieser Untersuchung. Diese wichtige Röntgenuntersuchung des Abdomens wurde erst gut zwölf Stunden nach Veranlassung durchgeführt. Am dritten postoperativen Tag stellten die betreuenden Ärzte eine Abwehrspannung fest, die für ein akutes Krankheitsgeschehen im Bauchraum typisch ist. Eine Stunde später erfolgte kinderchirurgisches Konsil, es wurden Abführmittel verordnet. Bei den Akten befindet sich der Bericht des kinderchirurgischen Konsiliarius mit Zeitangabe dritter postoperativer Tag 12:00 Uhr. In diesem Bericht wird das hoch dramatische Krankheitsbild eines akuten Abdomens dargestellt und bereits der pathologisch röntgenologische Befund bei der Abdomenübersicht einbezogen, obwohl die röntgenologische Untersuchung gut eine halbe Stunde nach Erstellung des Konsiliarberichtes datiert.

Es ist unverständlich, dass der kinderchirurgische Konsiliarius um 08:00 Uhr am dritten postoperativen Tag Abführmittel verordnete, vier Stunden später jedoch einen Bericht über ein hoch akutes Abdomen verfasste.


Inwieweit die Mitwirkung des kinderchirurgischen Konsiliarius ab dem dritten postoperativen Tag um 08:00 Uhr die betreuenden Ärzte (Orthopäden) entlastet, ist rechtlich zu entscheiden.


Abschließend sei angemerkt, dass der Behandlungsfehler Ärzten einer Universitätsklinik unterliefen, an deren Leistungsfähigkeit besonders hohe Ansprüche zu stellen sind.


Gutachten genießen den Schutz des Urheberrechts (§§ 1, 2, 11, 15 des UrhG vom 09.09.1965, BGB 1.1, S. 1273). Sie dürfen daher nur für den Zweck, für den sie erstellt worden sind, verwendet werden. Dies ist auch bei Weitergabe einer Kopie an den Untersuchten, seinen Hausarzt oder Rechtsanwalt zu beachten. Dieses Schriftstück darf ohne Einwilligung des Gutachters nicht zur Verfügung sonstiger Ansprüche verwertet werden.

 

 


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PD Dr. med. W. Berghoff


Anlagen


Inhaltsverzeichnis der Anlagen:
Seite 4 Anlage 1
Seite 5 Anlage 2