Medizinische Begutachtung


weiterer Schriftverkehr i.S. Privatgutachten


Priv. Doz. Dr. med. W. Berghoff
Facharzt für Innere Medizin

Telemannstraße 1
53359 Rheinbach, den 21.10.2015
Telefon 02226 - 2041
Telefax 02226 - 2044


Priv. Doz. Dr. med. Berghoff – Telemannstraße 1 – 53359 Rheinbach

 

Herrn Rechtsanwalt

Hansjörg Haack

Lotter Straße 108

49078 Osnabrück


52/13/HC
XXX / Uniklinik Münster, u.a.
Ihr Schreiben vom 12.10.15
111 O 127/11

 


Sehr geehrter Herr Dr. Haack,


im Folgenden nehme ich zu dem o.g. Urteil Stellung. Die Abschnitte „Tatbestand“ und „Entscheidungsgründe“ enthalten zahlreiche falsche Feststellungen. Die entsprechenden Textpassagen werden im Folgenden durch Randziffern gekennzeichnet und kritisch kommentiert.


Der eigentlichen Stellungnahme zum Urteil seien einige Vorbemerkungen vorangeschickt.

 


Vorbemerkungen


Die Klägerin wurde am 26.02.08 wegen einer Wirbelsäulenverkrümmung operiert. Drei Tage später zeigte sich bei der Laparoskopie (Bauchspiegelung) und der anschließenden Baucheröffnung (Laparotomie) eine hochgradige, das gesamte Abdomen erfassende entzündete vereiterte Bauchhöhle. Im Bereich der Magenhinterwand klaffte ein 2-Euro-Stück großes Loch nach Perforation eines Magenulcus. Ein derart hochgradiger bakterieller Entzündungszustand entwickelt sich nicht innerhalb von Stunden, sondern über Tage. Aufgrund der Daten ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass das Ulcus bereits am 27.02.08, sicher aber am 28.02.08 bestand und perforierte.


Nach der Operation zeigte sich, dass die Schmerzbehandlung mittels Periduralkatheter (Betäubung im Bereich des Rückenmarks) nicht funktionierte. Die hochgradigen postoperativen Schmerzen wurden also nicht adäquat medikamentös behandelt. Der hieraus resultierende Stress war die Ursache des Magengeschwürs.


Die Akten enthalten praktisch keine ärztliche Dokumentation, zumindest wird der Krankheitsverlauf des Ulcus, der Ulcusperforation und der sich nachfolgend entwickelnden eitrigen diffusen Peritonitis ärztlich nicht dokumentiert.


Die Diagnose eines akuten Abdomens stützt sich auf den Krankheitsverlauf, also auf die anamnestischen Daten und auf den körperlichen Untersuchungsbefund. Nachrangig sind medizinisch-technische Befunde, jedoch andererseits von erheblicher Bedeutung; insbesondere im vorliegenden Fall zeigten sich bereits ein Tag nach der Operation signifikante Laborveränderungen, die auf eine bakterielle Infektion hinwiesen. Der Gutachter Prof. Müller vertritt sinngemäß die Ansicht, dass die operierenden Orthopäden und die postoperativ betreuenden Ärzte in der Orthopädischen Universitätsklinik Münster das Krankheitsbild der Ulcusperforation mit Entwicklung einer Peritonitis nicht erkannten, da die Symptomatik für die Ärzte unbekannt war und zwar weil sie nicht zum orthopädischen Fachgebiet gehörte. Implizit kommt der Gutachter also zu der Einschätzung, dass von einem operativ tätigen Orthopäden nicht erwartet werden kann, dass er eine postoperativ auftretende Magenperforation mit Peritonitis erkennen, also diagnostizieren und entsprechende Maßnahmen einleiten kann.


Am 29.02.08 wurde laparoskopisch und nachfolgend bei Laparotomie eine hochgradige und im gesamten Abdomen ausgebreitete Peritonitis festgestellt, die nicht erst am 29.02.08 begonnen haben kann; vielmehr entwickelt sich eine derartige schwere Peritonitis, insbesondere bei zunächst gedeckter Magenhinterwandperformation über einen Zeitraum von einigen Tagen.

Die Bauchfellentzündung führte zu einem septischen Schock mit einem schwersten postoperativen Krankheitszustand, der sich über viele Wochen erstreckte. Auch ein solcher septischer Schock kann sich nicht nach einer Krankheitsdauer von nur einigen Stunden entwickeln, d.h. im Zeitraum von 8:00 Uhr bis 12:30 Uhr (vom Gericht angenommene Zeitpunkte der Erstfeststellung eines möglichen akuten Abdomens und dessen Objektivierung durch röntgenologische Abdomenübersicht).


Die ärztliche Dokumentation ist in Anbetracht der schweren Krankheitsentwicklung unzureichend und betrifft, soweit aus den Dokumenten überhaupt ersichtlich, nur den 27.02. und 28.02.08, also den ersten und zweiten postoperativen Tag (vgl. Brief
Dr. Berghoff 27.05.15).


Der postoperative Verlauf ergibt sich ausschließlich aus dem Arztbrief der Klinik und Poliklinik für Allgemeine Orthopädie, UKM vom 30.05.08.


Im Arztbrief der Orthopädischen Klinik 30.05.08 heißt es: „Im weiteren Verlauf klagte XXX über Schmerzen im Rücken. Solche Schmerzen sind bei einer gedeckten Magenhinterwandperforation ein typisches Symptom, das differentialdiagnostisch zu beachten ist“. Was mit „im weiteren Verlauf“ gemeint ist, geht aus dem Arztbrief nicht hervor.


Bereits am 28.02.08 fiel laut Arztbrief der Orthopädischen Klinik eine Positivbilanz auf. Hierunter wird Wassereinlagerung im Körper verstanden, ein typisches Phänomen im Zusammenhang mit einem Schockgeschehen.


Der zeitliche Ablauf des Krankheitsgeschehens ist dem Arztbrief vom 30.05.08 nicht eindeutig zu entnehmen. Sinngemäß heißt es im Arztbrief, dass bereits am Abend des Operationstages der Bauch gebläht war.


Am 27.02.08 ist auf der Rückseite der Tageskurve vermerkt: „Schmerzen, Übelkeit, Erbrechen“.


Am 28.02.08 ist auf den Tageskurven vermerkt: „7:00 Uhr Visite. Lasix 20 mg 2 x 1. Patient fiebert auf 38 Grad. Tachykard (120)“.
(Sinngemäß): „29.02.08. 7:00 Uhr Symptome eines akuten Abdomens, Veranlassung eines kinderchirurgischen Konsils“.


Ab dem 28.02.08 dramatischer Anstieg des CRP und signifikant pathologischer Anstieg der Leukozyten.


Der Gutachter Prof. Gosheger, Gutachter der Ärztekammer, nimmt retrospektiv eine Magenperforation am 28.02.08 an, ohne seine Annahme zu begründen.


Nach Ansicht der Gutachter Godolias und Meyer bestanden bereits am 28.02.09 mehrere Symptome eines akuten Abdomens (Übelkeit, Schmerzen, Störung der Darmperistaltik, spärliche Darmgeräusche, Fieber, deutliche Erhöhung des CRPWertes). Diese Symptome werden jedoch als „unspezifisch“ bezeichnet. Entgegen der Literatur wird auch der extrem erhöhte CRP-Wert von 30 mg / dl (Norm 0,5 mg / dl) als „unspezifisch“ bezeichnet. Darüber hinaus behauptet der Gutachter, dass ein CRP-Anstieg auf 30 mg / dl am zweiten postoperativen Tag nach Spondylodese nicht ungewöhnlich sei. Diese Behauptung ist unkorrekt, mit der Literatur nicht vereinbar und wird vom Gutachter nicht begründet oder belegt.


Nach Ansicht der Gutachter Godolias und Meyer hätte „vielleicht aufgrund der Befundkonstellation schon am 28.02.08 eine Diagnostik der abdominellen Beschwerden durchgeführt werden können“. Dass dies jedoch erst am 29.02.08 erfolgte, wird von den Gutachtern nicht als Behandlungsfehler angesehen.


(Anm. Dr. Berghoff: Wenn ein akutes Abdomen differentialdiagnostisch in Betracht kam, hätte sofort diagnostiziert werden müssen, d.h. insbesondere sofortige röntgenologische Abdomenübersicht).


Im Gutachten Prof. Tröbs, Kinderchirurg wird festgestellt, dass am 28.02.08, 13:24 Uhr Röntgen Abdomen erfolgte. Retrospektiv sei eine Konturierung des rechten Zwerchfells erkennbar.


(Anm. Dr. Berghoff: Diese auffällige Konturierung war möglicherweise erster Hinweis auf Ansammlung von freier Luft im Bauchraum, insbesondere bei einer Magenhinterwandperforation beginnt die Ansammlung freier Luft rechts am Leberunterrand. Eine sofortige Überprüfung dieses Befundes mittels CT wäre indiziert gewesen. Bei Ulcusperforation ist die Prognose bei operativer Intervention in
den ersten sechs Stunden hervorragend, verschlechtert sich jedoch erheblich nach zwölf Stunden. Die Diagnose einer Magenperforation ist im Wesentlichen eine klinische Diagnose, sie stützt sich auf die anamnestischen Daten, den körperlichen
Untersuchungsbefund und sonstige Hinweise bei medizinisch-technischen Untersuchungen (im vorliegenden Fall also insbesondere stark erhöhtes CRP, Leukozytose)).


Laut Formular vom 12.03.08 erfolgte das kinderchirurgische Konsil um 11:48 Uhr. Entscheidend ist, dass der kinderchirurgische Konsiliarbericht den Eintrag enthält „Röntgen Abdomen: freie intraabdominelle Luft“. Der Konsiliarbericht wurde also erst vier Stunden nach erfolgtem chirurgischem Konsil (nach Ansicht des Gerichtes 8:30 Uhr) erstellt.


Zum Zeitpunkt des chirurgischen Konsils (nach Ansicht des Gerichtes um 8:30 Uhr) bestand das typische Bild eines akuten Abdomens. Auch aufgrund der klinischen Daten ist objektiv festzustellen, dass das akute Abdomen nicht etwa erst am 29.02.08 gegen 8:00 Uhr auftrat, sondern schon wesentlich früher, wahrscheinlich bereits einen Tag nach der Operation.


Die Operation der Magenperforation erfolgte zwischen 20:00 Uhr und 22:00 Uhr, also etwa zwölf Stunden nach chirurgischem Konsil.


Bei der Operation am 29.02.08 wurde eine 2-Euro-Stück große Perforation der Magenhinterwand festgestellt. Eine derart große Perforation entwickelt sich nicht innerhalb von 12 oder 24 Stunden, sondern ist Ausdruck eines mehrtägigen Krankheitsprozesses.


Der Entzündungsmarker C-reaktives Protein (CRP) stieg kontinuierlich von 0,5 (Normalwert) auf 9,20 (erster postoperativer Tag), 12, 43 (zweiter postoperativer Tag) und 45,2 g / dl (dritter postoperativer Tag) an.


Im Gutachten Prof. Tröbs wird festgestellt, dass bereits am 27.02.08 die Trias Schmerzen, Übelkeit, Erbrechen sowie zusätzlich Anstieg des Pulses vorlagen. Am 28.02.08 wurde bei der Visite gegen 12:45 eine Tachykardie von 120 / min. festgestellt. Zu diesem Zeitpunkt war den betreuenden Ärzten bekannt, dass Tachykardie bereits am 27.02.08 erstmalig aufgetreten war.


Der Gutachter Tröbs stellt zudem fest, dass am 28.02.08 die Schmerzen besonders prekär waren, so dass eine Schmerztherapeutin hinzugezogen wurde.


Der Gutachter Prof. Tröbs stellt fest, dass sich die Magenperforation bereits am 27. und 28.02.08 ankündigte oder dass der Magendurchbruch bereits am 28.02.08 auftrat.


Prof. Tröbs weist darauf hin, dass hochpotente Schmerzmittel und antibiotische Behandlung (Rocephin) die Symptome möglicherweise gemindert haben.


Die Darstellung des Krankheitsverlaufes bei gedeckter Perforation eines Magenhinterwandgeschwürs in der Literatur ist in der medizinischen Stellungnahme Dr. Berghoff vom 29.10.12, Seite 4 und 5 dargestellt. Bei Beachtung dieser in der Literatur aufgelisteten Symptome und Krankheitsmanifestationen hätte die Diagnose eines perforierten Magenhinterwandgeschwürs früher gestellt oder zumindestens differentialdiagnostisch in Erwägung gezogen werden müssen.


Es ist unklar, welche Diagnose der „Schmerzdienst“ stellte und wie der zeitliche Ablauf des Krankheitsprozesses eingeschätzt wurde.


Die röntgenologische Abdomenübersicht wurde bereits am 28.02.08 gegen 23:16 Uhr veranlasst, wurde jedoch erst am 29.02.08 gegen 12:34 Uhr durchgeführt.


Der kinderchirurgische Konsiliarbericht vom 29.02.08 enthält die Zeitangabe 12:00 Uhr und bereits den Eintrag „freie Luft im Bauchraum“. Die entsprechende Röntgenaufnahme erfolgte jedoch nach 12:00 Uhr, d.h. um 12:34 Uhr.


Der Gutachter Prof. Müller stellt in seinem Gutachten vom 13.09.12 fest: „Letztendlich fehlte für die Orthopäden wahrscheinlich eine Symptomatik, anhand derer sie an ein von der orthopädischen Behandlung unabhängiges Krankheitsbild im Abdomen denken mussten“. Der Gutachter behauptet also (inhaltlich), dass den Orthopäden die Symptomatik eines perforierten Hinterwandgeschwürs nicht vertraut war und dass sie daher an ein Krankheitsbild im Abdomen nicht denken mussten.


Sinngemäß bedeutet dies, dass ein Patient, der sich in einer Universitätsklinik operieren lässt, damit rechnen muss, dass die Orthopäden die postoperative Komplikation eines perforierten Magengeschwürs nicht erkennen und nicht einmal an einen solchen Zusammenhang denken müssen.


Der Gutachter Prof. Müller verneint eine rechtzeitige, d.h. spätestens am 28.02.08 durchzuführende Diagnostik des akuten Abdomens mit der Begründung, dass eine Abwehrspannung fehlte. Dabei übersieht er die Tatsache, dass eine Abwehrspannung bei einer gedeckten Perforation eines Magenhinterwandulcus nicht obligat ist und vor allem, dass zahlreiche sonstige schwerwiegende
Krankheitssymptome sich entwickelt hatten und vorlagen (Zeichen eines beginnenden Schockgeschehens, vermehrte Wassereinlagerung, notwendige Erhöhung theoretischer Medikamente, Fieber, Tachykardie, extrem hohe Werte für CRP, deutliche Erhöhung der Leukozyten).


Pauschal stellt der Gutachter Prof. Müller fest: „Die betreuenden Ärzte (Orthopäden) haben das fachfremde Krankheitsbild der Magenulcusperforation (offensichtlich) nicht rechtzeitig erkannt. Die betreuenden Ärzte haben jedoch rechtzeitig alle diagnostischen Maßnahmen zur Klärung der Krankheitsproblematik eingeleitet“. Diese Behauptung ist unzutreffend, tatsächlich wurde die Abklärung des akuten Abdomens nach Ulcusperforation zeitlich erheblich verzögert; das Gleiche gilt für die operative Behandlung bei akutem Abdomen (perforiertes Ulcus, diffuse hochgradige Peritonitis, die bereits seit Tagen bestand).


Prof. Boemers stellt in seinem Gutachten vom 10.11.14 fest, dass die konsiliarische Beurteilung des akuten Abdomens sich in einem Zeitraum von etwa vier Stunden abgespielt hat. Dies stelle keine Verzögerung dar. Tatsächlich ist ein akutes Abdomen eine lebensbedrohliche Notsituation, die sofortiges diagnostisches und therapeutisches Handeln eines Viszeralchirurgen erfordert.


Prof. Boemers stellt gutachterlich fest, dass am 28.02.08 gegen 16:00 Uhr (Oberarztvisite) die Anordnung einer röntgenologischen Abdomenübersicht erfolgte, die Anforderung der Röntgenuntersuchung erfolgte jedoch (erst) am 28.02.08 gegen 23:16 Uhr. Tatsächlich erfolgte die Röntgenuntersuchung am 29.02.08 um 12:34 Uhr, also knapp einen Tag nach Anordnung bei der Oberarztvisite.


Nach Ansicht von Prof. Boemers entspricht es der Realität, dass perforierte Magenulcera regelhaft mit erheblicher zeitlicher Verzögerung operiert werden. Dagegen ist in der Literatur eindeutig dargestellt, dass operative Intervention bei perforiertem Magenulcus innerhalb von 6 Stunden eine günstige Prognose hat, nach 12 Stunden wird die Prognose sehr viel schlechter.

 


Kritische Stellungnahme zum Urteil vom 10.09.15


Tatbestand


1.
Im Rahmen der Operation wurde ein Periduralkatheter gelegt, der kurze Zeit nach der Operation nicht ausreichend funktionierte, daher Einsatz von Opioiden (Dipidolor-Infusion).


2.
Postoperativ (nach Wirbelsäulen-OP) kam es zu einem erheblichen Anstieg von CRP und Leukozyten.


3.
Am 29.02.08 wurde erstmalig eine leichte abdominelle Abwehrspannung festgestellt.
– Die Abwehrspannung allein ist für die Diagnose eines akuten Abdomens nicht maßgeblich, vielmehr hätten die zahlreichen sonstigen Symptomen eines schweren Krankheitszustandes (Peritonitis, septischer Schock) beachtet werden müssen. In Anbetracht der bei der Operation festgestellten hochgradigen diffusen Peritonitis hat der Krankheitsprozess nicht etwa erst am 29.02.08 begonnen, sondern wahrscheinlich bereits zwei Tage zuvor, d.h. am ersten postoperativen Tag, d.h. am 27.02.08.

4.
Am 28.02.08 sei bei der Oberarztvisite um 16:00 Uhr eine Röntgenaufnahme des Abdomens angeordnet worden. Diese wurde jedoch erst knapp einen Tag später durchgeführt.


5.
Die Klägerin behauptet, dass keine ärztliche Dokumentation erfolgte. Die tatsächlich bei den Akten vorliegenden relevanten Dokumentationen sind dem Schreiben Dr. Berghoff vom 27.05.15 zu entnehmen. Daraus ergibt sich, dass in der Tat keine oder
eine völlig unzureichende ärztliche Dokumentation vorliegt.


6.
Die Klägerin gibt an, dass seit 2011 der Schulbesuch eingestellt werden musste. Sie sei auf Gehstützen angewiesen, leide (sinngemäß) unter erheblichen Beschwerden eines Verwachsungsbauches, erheblichen Schlafstörungen und epileptischen
Anfällen.


7.
Die Beklagten behaupten, dass eine abdominelle Abwehrspannung erstmals am 29.02.08 um 7:00 Uhr festgestellt wurde. Es sei möglich, dass die Magenperforation bereits am 28.02.08 aufgetreten sei. Dafür habe es jedoch zu diesem Zeitpunkt keinen eindeutigen Anhaltspunkt gegeben. Im Übrigen liege eine vollständige ärztliche Dokumentation vor. Tatsächlich bietet die Datenlage zahlreiche Anhaltspunkte für ein akutes Abdomen (Peritonitis, paralytischer Ileus, septischer Schock). Die ärztliche Dokumentation ist (insbesondere in Anbetracht des schweren Krankheitsverlaufes) völlig unzureichend.


Entscheidungsgründe


8.
Die Notwendigkeit für ein kinderchirurgisches Konsil bestand bereits am ersten postoperativen Tag, d.h. am 27.02.08, spätestens jedoch am 28.02.08. Aufgrund des Krankheitsverlaufes und der Datenlage war zeitnah ein kinderchirurgisches Konsil spätestens am 28.02.08 erforderlich und zwar mit Durchführung einer Röntgenaufnahme. Meines Erachtens wurde am 28.02.08 sogar eine
Abdomenübersicht angefertigt, bei der Unregelmäßigkeiten unterhalb des rechten Zwerchfells festgestellt wurden. Dieser Befund wurde jedoch nicht weiter analysiert. Die Diagnose eines akuten Abdomens basiert auf Anamnese, körperlichem Untersuchungsbefund und medizinisch-technischen Befunden. Im Rahmen der Anamnese sind Krankheitsverlauf, Beschwerdesymptomatik, sonstige Symptome (z.B. Fieber, Tachykardie) und die im Verlauf erhobenen medizinisch-technischen
Befunde einzubeziehen. Eine körperliche Untersuchung hätte im vorliegenden Fall mindestens zweimal täglich erfolgen müssen. In diesem Zusammenhang ist es unverständlich, dass das Gericht die (hochgradigen) abdominellen Schmerzen und den drastischen Anstieg von CRP bei signifikanter Leukozytenerhöhung sowie sonstige Beschwerden nicht als Anlass für ein kinderchirurgisches Konsil betrachtet. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang, welche medizinischen Daten bei dieser Ansicht des Gerichtes überhaupt Grund für ein kinderchirurgisches Konsil sein sollen.


9.
Im Gegensatz zu der Urteilsbegründung trägt die Lokalisation der Schmerzen zur Diagnosefindung eines perforierten Magenhinterwandulcus und einer diffusen eitrigen Peritonitis nicht bei. Es kommt darauf an, alle Symptome, die als Hinweis auf
Perforation und eitrige Peritonitis hinweisen, zu beachten. Im Übrigen ist anzumerken, dass ein perforiertes Magenhinterwandgeschwür typischerweise zu Schmerzen im Rückenbereich führt, was den betreuenden Ärzten jedoch offensichtlich nicht bekannt war. Insbesondere die Formulierung, dass die Schmerzen „eher am Rücken und weniger in Richtung Abdomen“ zu verorten waren, kann als Grund für die unterlassene Abklärung des abdominellen Krankheitsbildes nicht gelten. Die im Rahmen des perforierten Magenulcus und eitrigen Peritonitis aufgetretenen Beschwerden „Übelkeit und Erbrechen“ waren in der gegebenen Situation als weiterer Hinweis auf eine schwere abdominelle Krankheit zu werten und entgegen der Ansicht des Gerichtes selbstverständlich (auch) Anlass, den abdominellen Prozess abzuklären. Die Behauptung, dass Übelkeit und Erbrechen
bei all den anderen Befunden (Schmerzen, Zeichen eines septischen Schocks, defizitäre Flüssigkeitsbilanz, d.h. verminderte Harnausscheidung, Fieber, Tachykardie, hochgradiges Krankheitsgefühl, dramatischer Anstieg von CRP u.a.m.) kein Anlass zur Abklärung des abdominellen Befundes waren, ist nicht nachvollziehbar.


10.
Ein postoperativer Subileus ist meistens eine Angelegenheit von einigen Stunden, die im vorliegenden Fall stetige Progredienz der Beschwerdesymptomatik und der drastische Anstieg der Entzündungsparameter (insbesondere CRP) hätten eine täglich mehrmalige ärztliche Verlaufsuntersuchung erfordert und vor allen Dingen eine frühzeitige Hinzuziehung des Viszeralchirurgen (Anlage 1).


11.
Die im Urteil differentialdiagnostisch erwähnten Krankheiten als Ursache der Erhöhung von CRP und Leukozyten, nämlich Entzündung der Lunge, Wundinfektion und Infektion der Harnwege, wurden zeitnah ausgeschlossen. Nach Ausschluss dieser differentialdiagnostischen Möglichkeiten wurde das Krankheitsbild jedoch nicht weiter analysiert.


12.
Der erhöhte CRP-Wert (am 27.02.08: 9,2, am 28.02.08: 30,1, am 29.02.08: 45) kann nicht allein durch die Operationsbelastung erklärt werden. Dies gilt insbesondere für den Wert vom 27.02.08 und insbesondere für den drastischen Anstieg am 28.02.08. Ein derartiger Anstieg von CRP allein aufgrund einer Operation ist in der Literatur nicht beschrieben. Vielmehr berichtet die Literatur, dass ein deutlicher Anstieg des CRP sehr eng mit einer bakteriellen Infektion assoziiert ist (Anlage 2, Abschnitt „Moderate to marked elevation of CRP“).


13.
Die Klägerin kann nicht beweisen, dass bereits vor dem Morgen des 29.02.08 eine abdominelle Abwehrspannung vorlag, da ärztliche Verlaufsnotizen über einen abdominellen Befund am 29.02.08 erstmalig erwähnt werden. Davor fehlt die ärztliche Dokumentation vollkommen. Auf jeden Fall ist die ärztliche Dokumentation hochgradig defizitär, da sich vor dem 29.02.08 keine einzige ärztliche Verlaufsnotiz über einen abdominellen Befund bei der dramatischen Krankheitsentwicklung findet.


14.
Die Behauptung des Gerichtes, dass „erst eine abdominelle Abwehrspannung für einen Orthopäden ein Alarmsymptom“ sei, ist schwer nachzuvollziehen. Wahrscheinlich will das Gericht zum Ausdruck bringen, dass der auf sein Fachgebiet orientierte Orthopäde erst bei einer dramatischen Krankheitssituation (abdominelle Abwehrspannung als Alarmsymptom) feststellen kann, dass ein krankhafter Prozess im Bauchraum vorliegt.


15.
Das Gericht akzeptiert, dass die Orthopäden erst einen Kinderchirurgen konsiliarisch hinzuzogen, als das Krankheitsgeschehen eine hochgradige Ausprägung aufwies. Der entscheidende Vorwurf gegenüber den Orthopäden ist jedoch die Tatsache, dass Magenperforation und sich entwickelnde Peritonitis viel zu spät erkannt und dass chirurgische Konsil zu spät angefordert wurde.


16.
Der Hinweis des Gerichtes, dass in den Krankenunterlagen vor dem 29.02.08 keine abdominelle Abwehrspannung festgestellt wurde, ist bei Betrachtung der gesamten Datenlage ganz offensichtlich Folge einer unzureichenden ärztlichen Verlaufsbeobachtung und einer (praktisch) fehlenden ärztlichen Dokumentation. Wenn am 28.02.08 bei der Oberarztvisite gegen 16:00 Uhr eine Abdomenübersicht angeordnet wurde, stellt sich die Frage, ob zu diesem Zeitpunkt von den betreuenden Orthopäden die Möglichkeit eines akuten Abdomens (Peritonitis) differentialdiagnostisch in Betracht gezogen wurde. Dies kann wohl kaum verneint werden. Die betreuenden Orthopäden haben die Datenlage nicht sorgfältig analysiert, die Differentialdiagnose war völlig unzureichend, die Möglichkeit einer Peritonitis hätte bereits am 27.02.08, spätestens am 28.02.08 erwogen werden müssen.


17.
Das Versorgungsblatt wurde unter Datum 28.02.08 erstellt und enthält den Eintrag: „Abdomenaufnahme, KCH-Konsil“. Das Gericht geht davon aus, dass dieser Eintrag erst am 29.02.08 erfolgte und stützt sich dabei auf die Aussage der Beklagten zu 4). Eine Diskussion über solche Formalien ist überflüssig. Entscheidend ist die Tatsache, dass das akute Abdomen erst am 29.02.08 bei der Visite gegen 7:00 Uhr erstmalig diagnostiziert wurde, obwohl spätestens seit Beginn des 28.02.08 bereits hochgradige Symptome und Befunde für ein akutes Abdomen vorlagen.


18.
Der kinderchirurgische Konsiliarius erhob am 29.02.08 gegen 8:30 Uhr folgenden Befund: „Geblähtes und etwas gespanntes Abdomen, diffuse Druckschmerzhaftigkeit ohne eindeutige peritoneale Zeichen“. In diesem Befund ist also von einer Abwehrspannung nicht die Rede. Selbst zu diesem Zeitpunkt konnte der erfahrene Kinderchirurg eine Abwehrspannung (noch) nicht feststellen. Es ist daher nicht nachvollziehbar, dass das Gericht dem Vorhandensein einer Abwehrspannung die entscheidende Bedeutung bei der Diagnose des akuten Abdomens zumisst.


19.
Das Gericht ist der Ansicht, dass der chirurgische Konsiliarius (Zeuge Dr. Koch) den Befund einer Abwehrspannung erhob. Dies entspricht nicht den Tatsachen. Im Konsiliarbericht ist von „gespanntem Abdomen“ und nicht von „Abwehrspannung“ die Rede. Vielmehr schließt die Formulierung „ohne eindeutige peritoneale Zeichen“ eine Abwehrspannung aus. – Wenn der kinderchirurgische Konsiliarius den Verdacht auf ein akutes Abdomen hatte, war es unverantwortlich, dass er nahezu vier Stunden wartete, bis die Röntgenaufnahme vorlag. Eine solche Aufnahme kann innerhalb von zehn Minuten erfolgen und hätte zur sofortigen Diagnose geführt. Allerdings lag am 29.02.08 bereits eine hochgradige diffuse eitrige Bauchfellentzündung vor, die den gesamten Bauchraum ergriffen hatte, zudem bestand ein klaffendes Loch in der Magenhinterwand. Angesichts dieses katastrophalen Befundes lag akute
Lebensgefahr vor. Eine rasche operative Intervention war geboten, Zu warten für weitere acht Stunden war ärztlich unverantwortlich. Entscheidend ist, dass die betreuenden orthopädischen Klinikärzte die Entwicklung des akuten Abdomens nach Ulcusperforation verkannten oder viel zu spät erkannten mit den bekannten schwerwiegenden Folgen.


20.
Die Feststellung des Gerichtes, dass die Operation des akuten Abdomens zwar dringlich war, jedoch kein Notfall vorlag, ist schockierend. In der Krankheitssituation am 29.02.08 gegen 8:00 Uhr bestand bereits hochgradige Lebensgefahr. Die im Bauchraum ablaufende bakterielle Infektion hätte über Toxine schlagartig zu septischem Schock und raschem Tod führen können.


21.
In der Urteilsbegründung wird behauptet, dass am 29.02.08 unklar war, wie lange die Perforation schon bestanden und zu Folgen im Abdomen geführt hatte. Wie oben ausgeführt, entwickelt sich eine hochgradige diffuse eitrige Peritonitis und ein klaffendes 2-Euro-großes Loch im Bereich der Magenhinterwand nicht innerhalb von Stunden, sondern von Tagen. Dies ergab sich eindeutig aus der Datenlage, die von den orthopädischen Klinikärzten nicht realisiert und analysiert wurden. Die Überlegungen und Schlussfolgerungen des Gerichtes, dass eine frühere Operation am 29.02.08 die Prognose insgesamt nicht verbessert hätte, sind praktisch gegenstandslos. Die Operation hätte bereits zwei Tage zuvor erfolgen müssen; am 29.02.08 wäre eine sofortige Operation wegen drohender Lebensgefahr indiziert gewesen. Eine Diskussion, ob durch eine etwas frühere Operation die Krankheitsfolgen hätten minimiert werden können, ist in Anbetracht der hochgradigen Folgeschäden infolge der verspäteten Operation nachrangig.


22.
Die ärztliche Dokumentation ist insbesondere in Anbetracht des schwerwiegenden Krankheitsverlaufes völlig unzureichend. Es ist Angelegenheit der Juristen zu klären, ob Beweiserleichterung oder sogar Beweislastumkehr resultiert.


23.
Unzutreffend ist die Annahme des Gerichtes, dass eine leichte Abwehrspannung erstmalig am 29.02.08 festgestellt wurde. Vielmehr stellte der chirurgische Konsiliarius (Zeuge Dr. Koch) beim Konsil fest, dass ein „etwas gespanntes Abdomen vorlag ohne eindeutige peritoneale Zeichen“ (also ohne Abwehrspannung, Anm. Dr. Berghoff). Es ist daher unklar, worauf die Ansicht des Gerichtes basiert, dass eine leichte Abwehrspannung erst am 29.02.08 (erstmalig) festgestellt wurde. Insofern stimmen die Inhalte des Arztbriefes der Orthopädischen Universitätsklinik Münster vom 30.05.08 mit der ärztlichen Dokumentation nicht überein.


24.
Entgegen der Ansicht des Gerichtes kann der Anstieg der Laborwerte, insbesondere der Anstieg des CRP nicht mit der vorausgegangenen schweren Operation erklärt werden. Dies widerspricht der Literatur und der Lehrmeinung. Tatsächlich war der Anstieg der Laborwerte (insbesondere des CRP) hochsignifikanter Hinweis auf eine schwere bakterielle Infektion (Peritonitis).

 

 


Gutachten genießen den Schutz des Urheberrechts (§§ 1, 2, 11, 15 des UrhG vom 09.09.1965, BGB 1.1, S. 1273). Sie dürfen daher nur für den Zweck, für den sie erstellt worden sind, verwendet werden. Dies ist auch bei Weitergabe einer Kopie an den Untersuchten, seinen Hausarzt oder Rechtsanwalt zu beachten. Dieses Schriftstück darf ohne Einwilligung des Gutachters nicht zur Verfügung sonstiger Ansprüche verwertet werden.

 

 


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PD Dr. med. W. Berghoff

 


Anlagen


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