Lehrbuch Lyme-Borreliose


2

Häufigkeit der LB in Deutschland


Die Häufigkeit einer Erkrankung wird durch die Inzidenz und Prävalenz definiert. Inzidenz ist die Anzahl von Neuerkrankungen in einem bestimmten Zeitraum (z.B. ein Jahr). Die Prävalenz beziffert die Anzahl von Erkrankungen, die in einem bestimmten Zeitraum (ebenfalls z.B. ein Jahr) vorliegen. Inzidenz ist also der Parameter für die Neuerkrankungen, Prävalenz der Parameter für die Gesamtzahl der Erkrankten, also „neue und alte Krankheitsfälle“.

Die Häufigkeit der Lyme-Borreliose hat in der Bundesrepublik Deutschland unter medizinischen, gesundheitspolitischen, sozialpolitischen und wirtschaftspolitischen Aspekten erhebliche Bedeutung.

Da die Lyme-Borreliose eine in hohem Maß zum chronischen Verlauf tendierende Infektionskrankheit ist, insbesondere wenn die Krankheit durch Verkennung überhaupt nicht oder infolge verzögerter Diagnose zu spät antibiotisch behandelt wird, kommt der Bestimmung der Prävalenz unter den genannten Aspekten die entscheidende Bedeutung zu. Eine Bestimmung der Prävalenz, also der Anzahl von Borrelioseerkrankten, könnte theoretisch durch Registrierung auf der Basis der Meldepflicht erfolgen. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass nur solche Fälle erfasst würden, die sich wegen der Erkrankung einer ärztlichen Untersuchung unterzögen und bei denen der betreuende Arzt die Diagnose einer Lyme-Borreliose feststellen und melden würde. Die Methode wäre also eingeschränkt durch die Initiative des Patienten und die Leistungsfähigkeit des Arztes. Dennoch wäre eine solche Erfassung der Prävalenz durch Meldepflicht eine wesentliche und effektive Methode und böte die Basis für eine approximative Berechnung für die wahrscheinliche Krankheitshäufigkeit.

Da die direkte Erfassung der Prävalenz also erheblichen Unsicherheiten unterliegt, greift die epidemiologische Wissenschaft auf zwei Faktoren zurück, die auf die Gesamt-Häufigkeit der Lyme-Borreliose schließen lassen:

  • Inzidenz (Häufigkeit der Neuerkrankungen pro Jahr)
  • Häufigkeit von Erstdiagnosen chronischer Krankheitsverläufe

Bei einer mathematischen Kalkulation der Prävalenz wäre ein weiterer Faktor von entscheidender Bedeutung, nämlich die durchschnittliche Dauer der chronischen Lyme-Borreliose. Hierzu bietet die aktuelle Literatur jedoch keine belastbaren Daten.

Die Literaturangaben zur Inzidenz weisen sehr große Unterschiede auf und betreffen meistens vorselektierte Kollektive, also Patientengruppen, die z.B. zu Spezialkliniken überwiesen wurden oder die an Krankheitsmanifestationen, die bestimmten Fachgebieten zuzuordnen sind, litten (Hanrahan et al., 1984 (2), Schmutzhard et al., 1988 (3), Fahrer et al., 1991 (4), Gustafson et al., 1992 (5), Alpert et al., 1992 (6), Heininger et al., 1993 (7), Kuiper et al.,1993 (8)). Eine Studie über ein unselektiertes Kollektiv liegt weder für die Bundesrepublik Deutschland noch für ein anderes Land vor.

Für die Bundesrepublik Deutschland haben allerdings die Publikationen von Huppertz et al. 1999 (9) und Hassler, 1997 (10) im Hinblick auf die Inzidenz Bedeutung. Allerdings ist bei diesen Arbeiten zu beachten, dass sie aus endemischen Gebieten stammen, wie dies auch für die grundlegende Studie von Steere et al. (11) über die Häufigkeit der Lyme-Borreliose in dem endemischen Gebiet der USA gilt, in dem die Lyme-Krankheit entdeckt wurde.

Bei der Arbeit von Huppertz et al., 1999 (9) ist zu beachten, dass für die Diagnose der Lyme-Borreliose folgende Einschlusskriterien gewählt wurden: Erythema migrans, Lymphozytom, Arthritis, Neuroborreliose, Karditis und Acrodermatitis chronica atrophicans mit serologischer Bestätigung. Einwände gegen die Arbeit betreffen also unter anderem die Tatsachen, dass das Erythema migrans nur in 50-70% der Fälle, mitunter noch seltener (Ziska, 1996 (24), Satz, 2002 (23)) bei Lyme-Borreliose auftritt (Asch, 1994 (14), Culp, 1987 (25)), dass die übrigen Einschlusskriterien oft Ausdruck eines Spätstadiums sind, also weniger der Gruppe der Neuerkrankungen (Inzidenz) zuzuordnen sind und dass etwa 40% der Patienten mit Lyme-Borreliose seronegativ sind (Klempner et al., 2001 (17)). Ferner ist zu beachten, dass bei knapp 90% der Neuerkrankungen (Inzidenz) ausschließlich ein Erythema migrans vorlag und keine sonstigen Symptome einer Borreliose. Allein unter dem Aspekt des Zusammenhangs mit dem Erythema migrans, das wie bereits erwähnt nur in 50-70% der Lyme-Borreliose-Kranken auftritt, ergibt sich eine entsprechende Unterschätzung der Inzidenz, die tatsächlich etwa doppelt so hoch liegen müsste wie in der Arbeit von Huppertz et al., 1999 (9) angegeben. – Generell kann festgestellt werden, dass bei Studien mit einem relativ hohen Anteil mit Erythema migrans und eher geringen Anteil von Symptomen der Spätmanifestationen eine unzureichende Erfassung der chronischen Fälle vorliegt.

Die Erfassung der Patienten mit Lyme-Borreliose erfolgte in der Arbeit von Huppertz et al., 1999 (9) im Zusammenwirken mit den ortsnahen niedergelassenen Ärzten und den regionalen Krankenhäusern. Bei einer solchen Erfassung gelten die gleichen Einschränkungen wie sie im Zusammenhang mit der Meldepflicht dargestellt wurden.

Im Hinblick auf die Arbeit von Hassler, 1997 (10) ist der Hinweis des Autors selbst zu beachten, dass eine nicht genau abschätzbare Dunkelziffer daraus resultiert, dass nicht alle Einwohner der untersuchten Region wegen Symptome einer Lyme-Borreliose den Arzt aufsuchten oder andernorts ärztlich betreut wurden. Der Anteil von Neuerkrankungen ohne Erythema migrans beträgt in der Hassler-Arbeit in Übereinstimmung mit sonstigen Literaturangaben 50%. Dabei macht der Autor allerdings keine Angaben, inwieweit die Fälle ohne EM eher einem Spätstadium zuzuordnen sind; die Angaben zur Neuerkrankung betreffen in ca. 60% der Fälle die Gelenke und in über 50% das zentrale Nervensystem, 34% entfallen auf kardiale Symptome.

Die Inzidenz-Quoten aus diesen drei wichtigen Arbeiten sind in der Tabelle 2.1 dargestellt.

Tab. 2.1

Die Problematik, die Prävalenz durch Befragung von Ärzten festzustellen, ergibt sich z.B. aus dem Projekt „Geographische Epidemiologie und Borreliose in Brandenburg“ (Talaska, 1998 (22)). Dabei betrug die Anzahl von jährlichen Neuerkrankungen 2 bis 40 Fälle/100.000 Einwohner. Dies entspricht einer Inzidenz von 0,0002-0,004%. Eine ähnliche Größenordnung ergaben auch Untersuchungen im süddeutschen Raum (Talaska, 1998 (22)). Diese Zahlen stehen also in einem absurden Widerspruch zu denen prospektiver Studien (vgl. Tab. 2.1).

Bei der Kalkulation der Prävalenz, also der Anzahl von Borreliose-Patienten in der Bundesrepublik Deutschland, sind folgende Faktoren zu beachten:

  • ein Erythema migrans tritt nur in etwa 50-70% der Borreliose-Kranken auf (vgl. Steere et al., 1977 (1), ILADS (12), Sigal, 2006 (13))
  • unbehandelte Fälle eines nicht behandelten Erythema migrans gehen in 70% der Fälle in einen chronischen Verlauf über (Steere et al., 1986 (11))
  • der chronische Krankheitsverlauf erstreckt sich über Jahre, mitunter Jahrzehnte (Asch et al., 1994 (14), Shadick et al., 1994 (15), Logigian et al., 1990 (16), Klempner et al., 2001 (17), Logigian et al., 1999 (18), Hassler, 1997 (10), Steere et al., 1986 (11), Dattwyler et al., 1988 (19), Horst et al., 1990 (20))

Da bei Fehlen eines Erythema migrans in der Frühphase in aller Regel eine rechtzeitige Diagnose nicht erfolgt und somit in der entscheidenden Phase, d.h. innerhalb der ersten vier Wochen nach Infektions-Beginn, keine antibiotische Behandlung eingeleitet wird, ist mit einer entsprechend hohen Quote an chronischen Verläufen zu rechnen. Da zudem Erstmanifestationen im Spätstadium oft erst nach Jahren auftreten und das krankheitstypische Erythema migrans im Spätstadium eher selten ist, wird der Zusammenhang mit erfolgtem Zeckenstich bzw. einer Borrelien-Infektion oft verkannt; es resultiert eine hohe Quote von Krankheitsverkennung und -verneinung bzw. Fehldiagnosen.

Aktuell beruhen Fehleinschätzungen bei Inzidenz und Prävalenz der Lyme-Borreliose weiterhin auf einem defizitären Wissens- und Informationsstand. Die Kenntnis über Krankheitszusammenhänge und -manifestationen der Lyme-Borreliose sind (noch) unzureichend und die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten begrenzt.
Wird einer überschlägigen Kalkulation eine Inzidenz von 0,6% zugrunde gelegt, ergibt sich in der Bundesrepublik Deutschland eine Zahl von 500.000 Neuerkrankungen/Jahr. Da die derzeitige Versagerquote bei der üblichen antibiotischen Behandlung im Frühstadium, also beim Erythema migrans 10%, im chronischen Stadium etwa 50% beträgt, ergibt sich ein entsprechender Zuwachs der Gesamtzahl an Borreliose-Kranken (Prävalenz). Schließlich ist die Dauer der chronischen Lyme-Borreliose zu beachten; zuverlässige Zahlen zu diesem Parameter liegen nicht vor. Aus der Literatur und auch aus der Erfahrung zahlreicher auf dem Gebiet der Borreliose tätigen Ärzte ergibt sich jedoch, dass mit einer Verlaufsdauer von mindestens fünf Jahren zu rechnen ist. Bei Auftreten eines Erythema migrans geht ein Viertel der Fälle in eine chronische Borreliose über (Horst, 1988, 1990 (19, 20)); wird zudem die Quote des Erythema migrans von 50-70% bei Neuerkrankungen berücksichtigt, ergibt sich, dass etwa 40% der Borreliose-Neuerkrankungen in ein chronisches Stadium übergehen.


Die Gesamtkalkulation unter diesen Prämissen würde also ergeben, dass etwa 1 Million Menschen in der Bundesrepublik Deutschland an einer Lyme-Borreliose leiden (Prävalenz).


Ein Krankheitsbild, das die betroffenen Patienten über viele Jahre schwer belastet, oft mit gravierenden sozialen Auswirkungen, duldet keine Unterschätzung. Nur eine angemessene Strategie auf medizinisch-wissenschaftlichem und politischem Gebiet wird den an Lyme-Borreliose erkrankten Menschen die erforderliche Hilfe bringen.

Würde jedoch unter Missachtung oder Verneinung der dargestellten Zusammenhänge, die derzeit „allgemein diskutierte“ Inzidenzquote (jährliche Neuerkrankungen) von 100.000 zugrunde gelegt, ergäbe sich selbst bei einer solch restriktiven Einschätzung eine Prävalenz von 250.000 Borreliose-Patienten in Deutschland.

Auffallend ist auch die Tatsache, dass ca. 10 bis 15% der Bevölkerung in verschiedenen Bundesländern serologisch positiv sind (vgl. Satz, 2002 (23)). Die Bedeutung dieser hohen Zahl an serologisch positiven Menschen wird durch die Erkenntnis verstärkt, dass ein pathologisch serologischer Befund meist innerhalb von Jahren nach Abklingen der Krankheit verschwindet (Hassler, 1997 (10)). Zusätzlich ist zu beachten, dass etwa 40% der Borreliose-Patienten seronegativ sind (Klempner et al., 2001 (17)). Noch wichtiger erscheint jedoch die Erkenntnis, dass Menschen mit einem pathologischen Serologie-Befund in aller Regel früher oder später an einer Borreliose erkranken (Hassler, 1997 (10)).

Eine repräsentative, nicht selektierte Stichprobe aus der Gesamtbevölkerung eines Hochendemiegebietes ergab bei 17% des Kollektivs (2.628 Probanden) einen pathologischen serologischen Befund. Von diesen serologisch positiven Personen zeigten gut die Hälfte klinische Symptome einer Borreliose (Hassler, 1997 (10)), so dass sich hieraus eine Prävalenz für das Vorliegen einer Borreliose von ca. 8% ergeben würde.

In Langzeituntersuchungen dieses Kollektivs zeigte Hassler, 1997 (10), dass alle seropositiven Probanden in der Folgezeit erkrankten. Die maximale Latenz bis zum Auftreten von Krankheitssymptomen betrug 8 Jahre.

Entsprechend gibt Hassler, 1997 (10) für dieses Hochendemiegebiet eine Sero-Prävalenz von 17% und eine Inzidenz von 0,5% an. Die auffällige Diskrepanz zwischen Inzidenz (jährliche Neuerkrankung) und der Sero-Prävalenz (Prozentsatz seropositiver Einwohner im Untersuchungsgebiet) beruht wahrscheinlich auf einer Unterschätzung der Inzidenz oder signalisiert chronische Krankheitsverläufe über Jahrzehnte.

Auch in den USA wurde in einem endemischen Gebiet eine Sero-Prävalenz in der Größenordnung von 16% festgestellt, davon war etwa die Hälfte „subklinisch infiziert“ (Steere et al., 1986 (11)).

Die Probleme bei der Erfassung der Sero-Prävalenz werden in einigen anderen Publikationen deutlich. In der Studie von Cetin et al., 2006 (31) wurde die Sero-Prävalenz bei 1.250 Jägern untersucht. Es zeigte sich eine deutliche Relation zum Lebensalter. Bei Personen unter 29 Jahren lag die Sero-Prävalenz bei 33%, bei über 70 Jahren betrug sie 83%. Im Mittel ergab sich ein Wert von 54%. Alle untersuchten Personen waren asymptomatisch. – In der Arbeit von Dehnert et al., 2012 wurden etwa 12.600 Kinder und Jugendliche untersucht. Die Sero-Prävalenz betrug 4%, bei Katzenhaltung waren die Werte etwas höher (21).

Bei Verlaufsbeobachtungen an 502 Patienten mit Borreliose-typischen Beschwerden waren 75% seropositiv und 25% seronegativ (Hassler, 1997 (10)).

Neben der Arbeit von Hassler, 1997 (10) gibt es keine andere Publikation, die in ähnlicher Weise die Problematik der Inzidenz und Sero-Prävalenz der Lyme-Borreliose erfasst. Selbst wenn man berücksichtigt, dass die Analyse von Hassler ein Hochendemiegebiet betrifft, ist für das Gesamtterritorium der Bundesrepublik Deutschland mit einer hohen Prävalenz zu rechnen.
Die auch international berücksichtigte Arbeit von Huppertz et al., 1999 (9) gibt die Inzidenz für den Raum Würzburg mit 0,1% an. Sie beträgt also etwa 20% des Wertes in dem von Hassler, 1997 (10) untersuchten Endemiegebiet. Wie schon ausgeführt, ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass Huppertz et al., 1999 (9) eine vermittelte Erfassung durch Zusammenwirkung mit niedergelassenen Ärzten und regionalen Krankenhäusern vornahm, während Hassler, 1997 (10) eine definierte Bevölkerungsgruppe systematisch und eigenständig untersuchte; es lag also im Gegensatz zu der Arbeit von Huppertz keine Präselektion vor. – Zudem ist zu beachten, dass in der Studie von Huppertz et al., 1999 (9) als Einschlusskriterien ein Erythema migrans, Symptome einer chronischen Borreliose sowie ein positiver serologischer Befund gefordert wurden. Diese Einschlusskriterien und die indirekte Erfassung dürften zu einer Unterschätzung der Lyme-Borreliose-Häufigkeit führen.

Die von Hassler, 1997 (10) nachgewiesene Sero-Prävalenz findet sich in gleicher Größenordnung in verschiedenen Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland (Paul et al., 1987 (26), Schmidt et al., 1986 (27), Wilske et al., 1985 (28)). Wird bei einer vorsichtigen Kalkulation für die Bundesrepublik Deutschland eine Sero-Prävalenz von nur 5% zugrunde gelegt und bei der Hälfte der seropositiven Personen das Vorliegen einer Lyme-Borreliose angenommen (basierend auf den Daten von Hassler, 1997 (10) ergäbe sich eine Krankheits-Prävalenz (Anzahl der Krankheitsfälle) von 2,5% der Bevölkerung). Folglich wäre für die Bundesrepublik Deutschland ständig mit 2 Millionen Patienten zu rechnen, die an Lyme-Borreliose leiden.

Diese theoretischen Berechnungen werden inzwischen durch Daten objektiviert. Nach Erhebungen der Techniker Krankenkasse Deutschland beträgt die Inzidenz der Lyme-Borreliose, also die jährlichen Neuerkrankungen in Deutschland 2008, im Durchschnitt etwa 1%. Die auf die verschiedenen Bundesländer entfallenden Zahlen reichen von 0,3% (Nordrhein-Westfalen) bis 1,96% (Sachsen). In der seit Jahren gleichbleibenden Stammklientel des Verfassers betrug die Prävalenz, d.h. sämtlicher behandlungsbedürftiger Lyme-Borreliosen, 14%. Es liegt in der Natur der Sache, dass mit zunehmendem Informationsstand der Ärzteschaft die registrierte Prävalenz stetig steigt und sich den tatsächlichen Verhältnissen nähern wird. Die Annahme einer Prävalenz von mindestens 1 Million behandlungsbedürftiger LB-Patienten in der Bundesrepublik Deutschland ist daher nicht realitätsfern.
Nach jüngsten Erhebungen der Techniker Krankenkasse in Baden-Württemberg litten im Jahre 2009 170.000 Patienten an einer behandlungsbedürftigen Lyme-Borreliose. Dies entspricht einem Anteil von 1,6% der Gesamtbevölkerung, also in etwa den oben dargestellten Verhältnissen (29).

Eine Aktualisierung der Problematik ergibt sich aus einem Beitrag auf dem XI International Jena Symposium on Tick-borne Diseases.

Die GILEAD-Studie befasst sich mit der Häufigkeit der Erkrankung und den zeitgleich durchgeführten Laboruntersuchungen (30).

Im Folgenden wird lediglich zur Häufigkeit Stellung genommen. Dabei werden zur weiteren Verdeutlichung auch Daten einbezogen, die sich auf Erhebungen verschiedener Krankenkassen stützen, die in der GILEAD nicht berücksichtigt wurden.

Zunächst sei angemerkt, dass folgende Begriffe in Inhalt und Aussage identisch sind:

  • ICD A69.2
  • Erythema migrans bei Bb-Infektion
  • Frühstadium der LB
  • Inzidenz

Entsprechend vorliegender Daten ergibt sich für die o.g. Begriffe folgende Häufigkeit, die in Prozent der Gesamtbevölkerung BRD aufgelistet werden:

  • 2007-2008 DAK (durchschnittlich) 0,26%
  • 2009 Barmer GEK 0,4%
  • 2009 KBV 0,3%
  • 2010 AOK Bundesverband 0,33%
  • 2010 AOK Baden-Württemberg 0,43%
  • 2009 DAK 0,72%
  • 2009 TKK 1%
  • 2009 TKK/Östliche Bundesländer 0,27%
  • 2009 TKK Baden-Württemberg 1,5%

In der GILEAD-Studie wird die Inzidenz, gestützt auf DAK-Erhebungen, in 2007 und 2008 mit durchschnittlich 0,26% angegeben. Laut Daten in 2009 betrug die Inzidenz dagegen 0,72%, also etwa das 3-fache.

Da in der GILEAD-Studie die DAK-Zahlen aus 2007 und 2008 zu Grunde gelegt wurden, entspricht die Aussage der Publikation nicht den aktuellen Daten.

Bei der vorliegenden Problematik und den oben aufgeführten Zahlen ist eine Unterschätzung, nicht jedoch eine Überschätzung denkbar. Daher kommt den Zahlen der TK Baden-Württemberg aus 2009 mit der höchsten Inzidenz von 1,5% die entscheidende Bedeutung zu. Sie liegt etwa 6-fach höher als die Zahl der GILEAD-Studie.

Sämtliche oben aufgeführten Daten wurden tatsächlich von den betreuenden Kassenärzten erhoben und zwar unter Bezugnahme auf ICD A69.2, also auf ein Erythema migrans infolge Bb-Infektion, d.h. ein Frühstadium der Lyme-Borreliose.

Bei der Gesamtzahl der an Lyme-Borreliose leidenden Patienten ist jedoch nicht nur die Inzidenz (Erythema migrans, Frühstadium) zu beachten, sondern auch die oft über Jahre verlaufende chronische Lyme-Borreliose (Spätstadium, Stadium III). Die Gesamtzahl der an Lyme-Borreliose leidenden Patienten (Prävalenz) ergibt sich also aus der Inzidenz (neue Fälle, Frühstadium) plus der alte Fällen (chronische Lyme-Borreliose).

Da keine belastbaren Zahlen zur chronischen Lyme-Borreliose vorliegen, kann aktuell über die Gesamtzahl der an Lyme-Borreliose leidenden Patienten (Prävalenz) nicht fundiert diskutiert werden.

Entscheidend ist jedoch die ausreichend belegte Tatsache, dass in der BRD jährlich deutlich mehr als 1 Million Patienten an einer Lyme-Borreliose erkranken.
Die GILEAD-Studie geht also nicht nur von einer niedrigen Inzidenz (0,26%) aus, sondern lässt auch die Zahl der Patienten mit chronischer Lyme-Borreliose unberücksichtigt.
Ergänzend sei angemerkt, dass sich die in der GILEAD-Studie angegebenen Laborkosten auf zwei verschiedene Gruppen beziehen:

  • Gemeldete jährliche Neuerkrankungen (Inzidenz)
  • Gesamtzahl der Versicherten

Bei der Bezugnahme auf die Gesamtzahl korrelieren die Laborkosten selbstverständlich nicht nur mit der Inzidenz, sondern mit der Prävalenz, d.h. Neuerkrankungen + chronische

Erkrankungen; zudem kommen Patienten hinzu, bei denen lediglich die Verdachtsdiagnose einer Lyme-Borreliose bestand. Eine konkrete Zielsetzung bei der Gegenüberstellung von Patientenzahlen und Laborkosten lässt sich der Studie nicht entnehmen. Sinngemäß vertreten die Autoren die Ansicht, dass die Studie hilft, den Qualitätsstandard für diagnostische Tests und die wirtschaftlichen Aspekte beim medizinischen Management der Lyme-Borreliose besser einzuschätzen und den Notwendigkeiten anzupassen.

Literaturverzeichnis

  1. Steere AC, Malawista SE, Snydman DR, Shope RE, Andiman WA, Ross MR, Steele FM.  Arthritis and Rheumatism, Vol. 20, No. 1 (1977)
  2. Hanrahan JP, Benach Jl, Colemann JL, Bosler EM, Morse DL, Cameron DJ, Edelmann R, Kaslow RA. Incidence and cumulative frequency and endemic Lyme disease in a community. J Infect Dis 1984; 150:489-496
  3. Schmutzhard E, Stanek G, Pletschette M, Hirschl AM, Pallua A, Schmitzberger R, Schrögel R. Infections following tic-bites. Tic-borne Encephalitis and Lyme-Borreliosis – A prospective epidemiological study from Tyrol. Infection 1988; 16(5):269-72.
  4. Fahrer H, van der Linden SM, Sauvain MJ, Gern L, Zhioua E, Aeschlimann A. The prevalence and incidence of clinical and asymptomatic Lyme-Borreliosis in a population at risc. J Infect Dis 1991; 163:305-10.
  5. Gustafson R, Svenungsson B, Forsgren M, Gardulf A, Granström M. Two-year survay of the incidence of Lyme-Borreliosis and tic-borne Encephalitis in a high-risc population in Sweden. Eur J Clin Microbiol Infect Dis 1992; 11(10):894-900.
  6. Alpert B, Esin J, Sivak Sl, Wormser GP. Incidence and prevalence of Lyme disease in a suburban Westchester County community, N Y State J Med 1992; 92(1):5-8.
  7. Heininger U, Zimmermann T, Schoerner C, Brade V, Stehr K. Zeckenstich und Lyme-Borreliose. Eine epidemiologische Untersuchung im Raum Erlangen, Monatsschr. Kinderheilkd. 1993; 141:874-7.
  8. Kuiper H, van Dam AP, Moll van Charante AW, Nauta NP, Dankert J. One year follow-up study to assess the prevalence and incidence of Lyme Borreliosis among Dutch forestry workers. Eur J Clin Mikrobiol Infect Dis 1993; 12(6):413-8.
  9. Huppertz HI, Böhme M, Standaert SM, Karch H, Plotkin SA. Incidence of Lyme Borreliosis in the Würzburg Region of Germany, Eur J Clin Microbiol Infect Dis. 1999; 18: 697.
  10. Hassler D. Langzeitbeobachtungen zum Krankheitsbild der Lyme-Borreliose in einem Endemiegebiet, Habilitationsschrift Universität Heidelberg 1997.
  11. Steere AC, Taylor E, Wilson ML, Levine JF, Spielman A. Longitudinal assessment of the clinical and epidemiological features of Lyme disease in a defined population, J Infect Dis. 1986; 154(2):295-300.
  12. The International Lyme and Associated Diseases Society. Evidence-based guidelines for the management of Lyme disease, Expert Rev Anti-infect. Ther. 2 (1)
  13. Sigal LH. Treatment of Lyme disease. 2006; Up to Date
  14. Asch ES, Bujak DI, Weiss M, Peterson MGE, Weinstein A. Lyme Disease: An Infectious and Postinfectious Syndrome. The Journal of Rheumatology 1994; 21:3.
  15. Shadick NA, Phillips CB, Logigian EL, Steere AC, Kaplan RF, Berardi VP, Duray PH, Larson MG, Wright EA, Ginsburg KS, Katz JN, Liang MH. The Long-Term Clinical Outcomes of Lyme Disease, A population-based Retrospective Cohort Study. Ann Intern Med 1994; 121:560-7.
  16. Logigian EL, Kaplan RF, Steere AC. Chronic neurologic manifestations of Lyme disease. N. Engl. J. Med 1990; 323(21):1438-44.
  17. Klempner MS, Linden MD, Hu T, Evans J, Schmid CH, Johnson GM, Trevino RP, Norton DL, Levy L, Wall D, McCall J, Kosinski M, Weinstein A. Two controlled trials of antibiotic treatment in patients with persistent symptoms and a history of Lyme disease. N Engl J Med 2001; 345(2):85.
  18. Logigian EL, Kaplan RF, Steere AC. Successful Treatment of Lyme Encephalopathy with Intravenous Ceftriaxone. J Infect Dis 1999; 180:377-83.
  19. Horst H. Infektionen durch Zecken. Nieders. Ärztebl.1988; 14:14-6.
  20. Horst H. Morbidität durch Lyme-Borreliose in Niedersachsen. Nieders. Ärztebl. 1990; 22:32-6.
  21. Dehnert M, Fingerle V, Klier C, Talaska T, Schlaud M, Krause G, Wilking H, Poggensee G. Seropositivity of Lyme borreliosis and associated risk factors: a population-based study in Children and Adolescents in Germany (KiGGS). PloS one 2012; 7(8):e41321.
  22. Talaska T. (Hrsg.): Für die Praxis: Lyme-Borreliose aus biologischer, epidemiologisches, veterinärmedizinischer und humanmedizinischer Sicht, Eigenverlag 1998
  23. Satz N. Klinik der Lyme-Borreliose, Verlag Hans Huber, Bern, Göttingen, Toronto, Seattle, 2002
  24. Ziska MH, Donta ST, Demarest FC. Physician preferences in the diagnosis and treatment of Lyme disease in the United States. Infection 1996; 24(2):182-6.
  25. Culp RW, Eichenfield AH, Davidson RS, Drummond DS, Christofersen MR, Goldsmith DP. Lyme arthritis in children. An orthopedic perspective. J. Bone Joint Surg Am 1987; 69(1):96-9.
  26. Paul H, Gerth HJ, Ackermann R. Infectiousness for humans of Ixodes ricinus containing Borrelia burgdorferi. Zentralbl Bakt Microbiol Hyg A 1987; 263(3):473-6.
  27. Schmidt R, Kabatzki J, Hartwig S, Ackermann R. Erythema chronicum migrans disease in the Federal Republic of Germany. Zentralbl Bakt Hyg A 1986; 263:435-441.
  28. Wilske B, Münchhoff P, Schierz G, Preac-Mursic V, Roggendorf M, Zoul. Zur Epidemiologie der Borrelia burgdorferi-Infektion. Nachweis von Antikörpern gegen Borrelia burgdorferi bei Waldarbeitern in Oberbayern. Münchn Med Wschr 1985; 127:171-2.
  29. Pressemitteilung TKK Baden-Württemberg 2009
  30. Müller I, Freitag MH, Poggensee G, Scharnetzky E, Straube E, Schoerner Ch, Hlobil H, Hagedorn HJ, Stanek G, Schubert-Unkmeir A, Norris De, Gensichen J, Hunfeld KP. Evaluating frequency, diagnostic qualitiy, and cost of Lyme borreliosis testing in Germany: a retrospective model analysis. Clinical and Developmental Immunology Volume 2012, article ID 595427, 13p.
  31. Cetin E, Sotoudeh M, Auer H, Stanek G. Paradigm Burgenland: risk of Borrelia burgdorferi sensu lato infection indicated by variable seroprevalence rates in hunters. Wiener klinische Wochenschrift 2006; 118(21-22):677-81.