Wissenschaftliche Texte


Lyme-Borreliose: Forschungsbedarf und Forschungsansätze

(Ergebnisse eines interdisziplinären Expertentreffens am Robert-Koch-Institut,Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsbl.-Gesundheitsforsch.-Gesundheitsschutz2008. 51;1329-1339, 2008.)

Epikrise von Walter Berghoff


Autoren:
G. Poggensee, Infektionsepidemiologie
V. Fingerle, Mikrobiologe
K. P. Hunfeld, Mikrobiologe
P. Kraiczy, Mikrobiologe
A. Krause, Rheumatologin
F. R. Matuschka, Charité, Parasitologe
D. Richter, Charité, Parasitologin
M. M. Simon, Immunologe
R. Wallich, Uni Heidelberg, Immunologe

H. Hofman, Uni München, Dermatologin

 

B. Kohn, Veterinärmedizinerin
M. Lierz, Veterinärmediziner
A. Linde, Fachhochschule Eberswalde, Angewandte Ökologie und Zoologie
T. Schneider, Infektiologe
R. Straubinger, Universität Leipzig, Bakteriologe, Mykologe
K. Stark, Infektionsepidemiologe
J. Süss, Friedrich-Löffler-Institut Jena, Biologe
T. Talaska, Immunologe, Infektionsbiologe, Mikrobiologe
A. Jansen, Infektionsepidemiologe


Deutschland und Europa sind Hochendemiegebiet. Humanpathogene Borrelienspezies: Borrelia burgdorferi s.s., B. afzelii, B. garinii, B. spielmanii.


Borreliose hat eine geringe Letalität, jedoch eine hohe Krankheitslast.

Die Lyme-Borreliose (LB) resultiert aus der Interaktion des angeborenen und spezifischen Immunsystems mit Borrelien.


Im Bereich der Forschung besteht Handlungsbedarf zwecks besseren Verständnisses der Pathophysiologie und der Klinik der Lyme-Borreliose sowie zur Verbesserung der Diagnostik und Prävention.


Die Lyme-Borreliose wird in den nächsten zehn Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnen.


Es bestehen gravierende Forschungslücken auf dem Gebiet Epidemiologie, Immunologie und Diagnostik.


Zu priorisierenden Forschungsfragen gehört die Standardisierung der Serologie und insbesondere die Charakterisierung von Aktivitätsmarkern, die eine eindeutige Differenzierung von akuter und zurückliegender Lyme-Borreliose erlaubt.


Relevante Forschungsgebiete
(Rangordnung entsprechend Expertenmeinung
Priorisierungsindex, maximal 1):
Epidemiologie 0,8
Immunologie 0,7
Diagnose 0,6
Pathogenese 0,55
Ökologie 0,55
Prävention 0,5
Impfstoffentwicklung 0,54
Risikokommunikation 0,4
Mikrobiologie 0,35
Therapie 0,25

 

(Anm. Dr. Berghoff: Bei der Priorisierung wird für die Therapie ein Faktor 0,25 / 1 angegeben, für die Epidemiologie (z.B.) ein Faktor von 0,8 / 1. Forschung im Hinblick auf die Therapie wird von den Experten also mit der geringsten Priorität bewertet).


Der epidemiologische Überblick (surveillance der Lyme-Borreliose) ist in Deutschland und Europa unzureichend. Eine bessere Überwachung (surveillance) ist erforderlich für ein besseres Verständnis der Biologie und Klinik der Lyme-Borreliose.


Die Beantwortung von Forschungsfragen zur Epidemiologie, Ökologie, Immunologie und Prävention ist nur durch intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit möglich.


Die höchste Priorität wurde folgenden Fragenkomplexen zugeordnet:

  • Verbesserung der Datenlage zur epidemiologischen Situation der Lyme-Borreliose
  • Standardisierung der serologischen Tests
  • Untersuchungen zu Behandlungserfolg
  • Untersuchungen zur Bestimmung der Krankheitslast

(Anm. Dr. Berghoff: Diese Auflistung bezüglich Dringlichkeit von Fragenkomplexen steht also zum Teil im Widerspruch zu den obigen Daten der Prioritäts-Einschätzung).


Fazit: Es bestehen gravierende Forschungsdefizite und Handlungsbedarf im Hinblick auf die Lyme-Borreliose.


Forschungsthemen
(Rangordnung nach Bedeutung):
Standardisierung der serologischen Tests
Langzeituntersuchungen von Patienten mit positiver Borrelienserologie mit und ohne Symptome
Klinische Falldefinition
Untersuchungen zum Behandlungserfolg
Einführung einer Meldepflicht
Sonstige

Klinik


LB ist eine Multisystemerkrankung. Unterschieden werden Früh- und Spätmanifestationen.


Häufigste Manifestation Erythema migrans. Nach Dissemination können weitere Organmanifestationen auftreten: Neuroborreliose, Lyme-Arthritis, Akrodermatitis chronica atrophicans. Selten: Erkrankungen von Herz oder Auge.


Im Frühstadium (bei Erythema migrans) oft grippeähnliche Begleitsymptomatik.


Krankheitsbilder (entsprechend dem Text sind Früh- und Spätstadium gemeint, Anm. Dr. Berghoff) heilen auch ohne antibiotische Therapie folgenlos aus, jedoch sichert und beschleunigt eine antibiotische Therapie den Heilungserfolg. Therapieresistente
chronische Fälle können Monate bis Jahre anhalten. Solche chronischen Verläufe sind jedoch selten. Auch Defektheilungen, insbesondere im Nervensystem sind selten, können aber gravierend sein.


(Anm. Dr. Berghoff: Diese Anmerkungen zu klinischen Verlauf basieren allein auf Expertenmeinung, entsprechende Evidenz-basierte Studien liegen nicht vor. Im Text wird nicht erläutert, worauf sich die Einschätzung des klinischen Verlaufes der Lyme-Borreliose stützt).


Wie bei anderen Infektionen, können nach antibiotischer Behandlung (der Lyme-Borreliose) unspezifische Krankheitszeichen persistieren. Diese Krankheitszeichen können sehr vielfältig sein. Hierzu gehören insbesondere Muskel- und Gelenkschmerzen, Leistungsminderung, chronisches Müdigkeitssyndrom und neurokognitive Störungen. Diese Krankheitszeichen werden auch als „Post-Lyme-Syndrom“ bezeichnet. Das Post-Lyme-Syndrom ist einer antibiotischen Therapie nicht zugänglich.

 

(Anm. Dr. Berghoff: Das Post-Lyme-Syndrom ist keine definierte Krankheit (nosologische Entität) (Leitlinie Neuroborreliose, Deutsche Gesellschaft für Neurologie). Die „Infectious Disease Society of America (IDSA)“ stellt in ihren Kriterien 2006 fest, dass das sogenannte Post-Lyme-Syndrom keine negativen Auswirkungen auf Lebensqualität und Sozialfunktionen hat (also keine wesentliche Krankheitsbelastung, Anm. Dr. Berghoff).


Es wird nicht ausgeführt, welche anderen Infektionskrankheiten nach antibiotischer Behandlung zu unspezifischen Krankheitszeichen führen).


Die Kausalität einer Borrelieninfektion bei diesen nach Antibiose persistierenden Beschwerden kann meistens nicht bewiesen werden. Es resultiert eine unbegründete Diagnosestellung und eine Verunsicherung von Patienten und betreuenden Ärzten.
Folge ist ein Wildwuchs in Diagnostik und Therapie. Unbegründet wird monatelang antibiotisch behandelt.


(Anm. Dr. Berghoff: Es ist unverständlich, dass die Expertengruppe annimmt, dass bei einem sogenannten Post-Lyme-Syndrom (nicht definierte Krankheit, keine relevante Krankheitsbelastung) Diagnostik und Therapie durchgeführt werden. Auch wird der Adressat nicht benannt).


Es besteht daher dringender Bedarf einer verbesserten Primärdiagnostik, insbesondere eine Verbesserung der Möglichkeiten den Therapieerfolg zu beurteilen.


Derzeit stützt sich die Verlaufsbeurteilung nach antibiotischer Therapie ausschließlich auf die klinischen Beobachtung des Krankheitsverlaufes. Die Rückbildung der Symptome bei den Spätmanifestationen beträgt oft mehrere Wochen oder Monate.

Diagnostik der LB

Labordiagnose beruht auf Stufendiagnostik (Suchtest, Westernblot, Anm. Dr. Berghoff). Erregernachweis mittels PCR beschränkt sich auf spezielle Fragestellungen (Lyme-Arthritis). Erregernachweis mittels Kultur ist aufwendig.


Im Frühstadium beträgt Seronegativität bis zu über 50%.


Bei peripheren neurologischen Symptomen können intrathekale Antikörper im Liquor fehlen.


Nach frühzeitiger Antibiose kann Serokonversion oder IgM-IgG-Switch ausbleiben. Im fortgeschrittenen Stadium (gemeint ist wahrscheinlich das Spätstadium, Anm. Dr. Berghoff) besteht jedoch immer Seropositivität.


(Anm. Dr. Berghoff: Bei der Behauptung, dass im Spätstadium stets Seropositivität vorliegt, handelt es sich um eine (falsche) Meinungsäußerung. Tatsächlich ist durch umfangreiche Literatur belegt, dass im Spätstadium etwa 50% der Fälle seronegativ
sind (www.praxis-berghoff.de, „Diagnostik und Therapie der Lyme-Borreliose“)).


Nach erfolgreicher Therapie gehen die Antikörper nicht oder nur zögerlich zurück. Sie können monate- bzw. jahrelang persistieren. Auf dieser Basis ist also eine Differenzierung zwischen noch aktiver behandlungsbedürftiger LB und einem „Restzustand“ nach ausgeheilter Borrelieninfektion nicht möglich.


Bisher fehlt ein eindeutiger Aktivitätsmarker, der analog zur Syphilis-Serologie erlaubt, den Krankheitsverlauf und Therapieerfolg ausschließlich mit serologischen Testergebnissen zu beurteilen.


Die derzeit auf dem Markt befindlichen serologischen Untersuchungsverfahren weisen erhebliche Unterschiede der Qualität auf.

Immunologie

Die Grundlagenforschung zur LB ist in Deutschland und Europa völlig unzureichend. Immunologische Untersuchungen beziehen sich im Wesentlichen auf den in den USA vorherrschenden Erreger Borrelia burgdorferi s.s. Die in Europa vorkommenden zusätzlichen Erreger (B. garinii, B. afzelii und B. spielmanii) werden unzureichend berücksichtigt.


Ein Impfstoff für Europa als trivalenter Impfstoff auf der Basis von OspA wurde bereits in einer klinischen Phase II-Studie erfolgreich getestet und sollte 2004 auf den europäischen Markt kommen. Dieser vielversprechende Impfstoff wurde aufgrund nicht-wissenschaftlicher Erwägungen nicht bis zur Marktreife weiter entwickelt. In diesem Zusammenhang sollten bereits laufende Studien zur Entwicklung neuartiger Vakzinierungsstrategien mit höchster Priorität weiter verfolgt werden.


In geplanten immunologischen Studien gilt es, Proteine zu identifizieren, die als Aktivitätsmarker in der Diagnostik bzw. als Bestandteil von Impfstoffen geeignet sind.

Surveillance


Eine Verbesserung der Datenlage zur epidemiologischen Situation der LB in Deutschland ist notwendig, ein möglicher Ansatz wäre eine deutschlandweite Meldepflicht. Diese Meldepflicht könnte folgende Bezüge haben: Erythema migrans, frühe Neuroborreliose, Lyme-Arthritis.


Eine Ausweitung der Meldepflicht durch eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes hätte den Vorteil, dass repräsentative Aussagen über die geographische Ausbreitung und langfristige Tendenzen beobachtet werden könnten. Aufgrund solcher Daten
wäre es möglich, langfristige realistische Gesundheitsziele zu formulieren.


(Anm. Dr. Berghoff: Auf der Basis des jetzigen Infektionsschutzgesetzes ist die Lyme-Borreliose bereits meldepflichtig, wenn sie vom behandelnden Arzt als bedrohlich und als eine Gefährdung der Allgemeinheit angesehen wird. Dies ergibt sich aus einem entsprechenden Auflassungsvermerk im Gesetz).

Schlussfolgerungen


Bei dem Expertentreffen wurde festgestellt, dass die Lyme-Borreliose in Deutschland nicht die notwendige Beachtung gefunden hat und daher Handlungsbedarf besteht.