Das Deutsche Ärzteblatt ist das entscheidende Publikationsorgan der Bundesärztekammer; es erscheint wöchentlich und erreicht praktisch alle Ärzte der Bundesrepublik Deutschland. Daher kommt dem
vorliegenden Artikel über die Lyme-Borreliose (LB) unter gesellschaftlichem und politischem Aspekt eine herausragende Bedeutung zu. Der Beitrag wurde zur ärztlichen Fort- und Weiterbildung
zertifiziert.
Es ist daher dringend geboten, die im Text enthaltenen falschen Darstellungen und Ansichten zu korrigieren.
Zum Artikel selbst ergeben sich folgende Einwände:
- Die jährliche Inzidenz, d.h. die Anzahl von jährlichen Neuerkrankungen an Lyme-Borreliose von 100-150 Fällen / 100.000 Einwohnern stellt eine grobe Unterschätzung der Problematik dar. Im Text
wird Bezug genommen auf die sogenannte „Würzburger Studie“ von Huppertz (1), gegen die erhebliche methodische Einwände bestehen, da es sich, wie bei zahlreichen anderen Publikationen, um ein
vorselektiertes Kollektiv handelt. Werden andere Quellen zu Grunde gelegt (2) beträgt die Inzidenz mindestens das fünffache. Zudem geht ein Teil der Erkrankung in ein jahrelanges chronisches
Stadium über, so dass sich in der Summation noch höhere Zahlen ergeben (Prävalenz). Systematische Untersuchungen gesamter Bevölkerungskollektive in den USA und in der Bundesrepublik Deutschland
zeigten in Übereinstimmung eine Krankheitshäufigkeit (Prävalenz) von 8%, allerdings in endemischen Gebieten (2, 20). Da die Inzidenz in Endemiegebieten etwa fünfmal höher liegt als bei der
Gesamtbevölkerung (1, 20) ergäbe sich bei Übertragung auf die Prävalenz, dass in der Bundesrepublik Deutschland etwa 1,2 Mio Menschen an der Lyme-Borreliose leiden.
- Es trifft zwar zu, dass im Stadium III die ACA (Acrodermatitis chronica atrophicans) und eine chronische Arthritis typische Krankheitsmanifestationen darstellen, jedoch besteht im Spätstadium
infolge der Multiorganerkrankung (LB) eine Vielzahl von Krankheitsmanifestationen (3). Die Polyneuropathie ist mit einer ACA häufig vergesellschaftet und nicht nur gelegentlich, zudem ist die
Polyneuropathie per se eine häufige Manifestation der LB im Spätstadium (4).
- Eine chronische Borreliose oder eine LB im Spätstadium entwickeln sich nicht nur nach einer unbehandelten LB, sondern auch trotz einer vermeintlich adäquaten antibiotischen Behandlung
(3).
- Die Neuroborreliose im Stadium III manifestiert sich nicht in erster Linie in der Meningoencephalitis sondern vielmehr in einer Neuroradiculitis (Bannwarth-Syndrom), einer chronischen
Encephalomyelitis und der bereits genannte Polyneuropathie (5).
- Der sogenannte serologische Stufentest ist wissenschaftlich nicht haltbar, da der Westernblot eine höhere Sensivität als die Suchteste besitzt (6).
- Zu Beginn einer Lyme-Neuroborreliose ist die Serologie im Blut keinesfalls bis zu 90% der Fälle positiv, vielmehr liegt Seronegativität bei der akuten LNB mit Erregernachweis in 56% der Fälle
vor (7).
- Bei der akuten Lyme-Neuroborreliose (LNB) treten intrathekale Antikörper mit einer zeitlicher Verzögerung von mindestens 2 Wochen nach Beginn der neurologischen Symptomatik auf; überhaupt
sind nur in 80% der Fälle intrathekale Antikörper nachweisbar (8).
- Bei einer Krankheitsdauer von über 8 Wochen muss keinesfalls generell mit dem Vorliegen von Antikörpern im Serum gerechnet werden. In einem hohen Prozentsatz (ca. 50%) besteht bei der
chronischen Lyme-Borreliose Seronegativität (7, 8). Beim Erythema migrans wurden allerdings in etwa 80% der Fälle Antikörper nachgewiesen (19). Inwieweit ein Unterschied zwischen dem
lokalisierten Frühstadium und dem Spätstadium hinsichtlich der Seronegativität besteht und welche Gründe einer solchen Diskrepanz zu
Grunde liegen, ist ungeklärt.
- Bei der akuten Lyme-Neuroborreliose (LNB) in der Frühphase liegt meistens noch kein pathologischer Liquorbefund vor, so dass sich die Diagnose nicht auf den Liquorbefund stützen kann. In
einer Studie waren bei 799 Patienten mit eindeutig akuter LNB nur in 42 Fällen, d.h. in 5,25% Liquorveränderungen entsprechend den Kriterien der Leitlinien der Fachgesellschaften vorhanden
(Epidemiologisches Bulletin des Robert-Koch-Instituts, Berlin, 38/2007). In dem Bulletin heißt es: „Der in der zur Zeit gültigen Form der Falldefinition geforderte labordiagnostische Nachweis der
frühen Neuroborreliose wird nur bei einem sehr kleinen Anteil der übermittelten Neuroborreliosefälle erfüllt, eine Problematik, auf die schon in einem früheren Bericht hingewiesen wurde“.
- Die Behauptung, dass der Lymphozytentransformationstest keine geeignete diagnostische Maßnahme darstellt, ist unbegründet und unzutreffend. Der Lymphozytentransformationstest (LTT) wurde in
seiner diagnostischen Wertigkeit in etwa 15 relevanten Publikationen dargestellt. Nur zwei Arbeiten äußern sich zur diagnostischen Wertigkeit skeptisch. Die übrigen Autoren betonen die
Nützlichkeit des Tests. Durch erhebliche methodische Fortschritte, stellt der LTT eine wichtige Laboruntersuchung dar. Zudem ermöglicht der LTT als relativ rasch reagierender immunologischer Test
die Wirksamkeit einer durchgeführten antibiotischen Behandlung zu überprüfen. – Einige Mitglieder deutscher Fachgesellschaften stellen die diagnostische Wertigkeit des LTT in Frage, mit der
Begründung, der LTT verfüge über eine geringere Spezifität und Sensivität als serologische Untersuchungen. Der LTT sei daher überflüssig (9). Diese Beurteilung ist jedoch problematisch, da nicht
selten bei klinischem Hinweis auf eine chronische Lyme-Borreliose Seronegativität vorliegt, während der LTT ein deutlich positives Ergebnis aufweist. – Außerdem ist nach methodischen
Verbesserungen des LTT ein Standard erreicht, der hinsichtlich Spezifität und Sensivität dem der Serologie
nahe kommt (10).
- Die Behauptung, die Lyme-Borreliose habe eine gute Prognose und die meisten Symptome seien selbstlimitierend, stellt eine Verharmlosung dar. Wird in der Frühphase nicht antibiotisch
behandelt, ist in einem hohen Prozentsatz mit einer Entwicklung einer chronischen LB zu rechnen. Je früher die Behandlung einsetzt, umso größer ist der Therapieerfolg (11).
- Die Argumentation, dass auch ohne antibiotische Behandlung (vor 1982) die Neuroborreliose in zahlreichen Fällen spontan ausheilte, ist heutzutage irrelevant, stellt allerdings wiederum eine
Bagatellisierung der Krankheitsgefahr dar. Es besteht internationaler Konsens, dass die akute Neuroborreliose umgehend antibiotisch behandelt werden muss.
- Die Behauptung, dass bei einer Neuroborreliose die antibiotische Behandlung dazu dient, „seltene chronische Infektionen zu verhindern“, stellt ebenfalls eine Verharmlosung dar und untergräbt
die Wichtigkeit der antibiotischen Behandlung. – Bereits Steere und Mitarbeiter (12) wiesen 1983 nach, dass ein disseminiertes Frühstadium ohne antibiotische Behandlung in 67% der Fälle in ein
chronisches Stadium übergeht.
- Die Ansicht, dass eine leitliniengerechte Behandlung (nach IDSA, AAN) Rezidive verhindert, trifft weitgehend auf die frühe Lyme-Neuroborreliose zu (early lyme neuroborreliosis). Bei der
Lyme-Neuroborreliose im Spätstadium, also im Rahmen einer chronischen (allgemeinen) Lyme-Borreliose sind die Erfolgsaussichten bei einer sogenannten adäquaten Therapie nach IDSA sehr viel
geringer, wie dies unter Hinweis auf die Arbeit von Kaiser (2004) im Artikel dargestellt wird.
- Die im Artikel wiedergegebene Tabelle zur Behandlung der Borrelieninfektion stützt sich angeblich auf Behandlungsstudien. Diese Studien werden im Artikel jedoch nicht benannt. Die sogenannten
Grundlagen der vermeintlich adäquaten antibiotischen Behandlung, insbesondere im Hinblick auf das Spätstadium der LB sind fragwürdig und unzureichend (vgl. 13).
- Die Behauptung, dass Makrolide bei der Behandlung des Frühstadiums unzuverlässiger seien, trifft nicht zu, Azithromycin ist allen anderen im Artikel genannten Antibiotika gleichwertig
(14).
- Die Behauptung, dass ein ausbleibender Beschwerderückgang nach probatorischer Antibiotikabehandlung gegen eine chronische Borreliose spricht, ist unbegründet (als Literaturhinweis werden
lediglich die Leitlinien der DGN angeführt, jedoch keine Originalliteratur).
- Unter Hinweis auf die Arbeit von Krupp et al, 2003 wird die chronische Lyme-Borreliose mit dem Post-Lyme-Syndrom gleichgesetzt. Dies stellt wiederum eine Verharmlosung der chronischen
Lyme-Borreliose dar, also eines anhaltenden Krankheitszustandes infolge persistierender Infektion mit vitalen Erregern.
- Die Behauptung, dass in zahlreichen Untersuchungen in diesen Fällen (gemeint ist Post-Lyme-Syndorm oder chronische Lyme-Borreliose) das Bakterium nicht mehr nachgewiesen werden konnte, ist
wenig überzeugend, da der Erregernachweis eine Methode mit geringer Sensivität darstellt. Umgekehrt wurde überdies in zahlreichen Arbeiten bei der chronischen Lyme-Borreliose trotz intensiver
antibiotischer Behandlung der Erreger nachgewiesen (15).
- Die Behauptung, dass eine sogenannte antibiotische Nachbehandlung bei Persistieren von Beschwerden nach vorausgegangener mehrfach antibiotisch behandelter LB ohne Effekt war, trifft in dieser
Allgemeinheit nicht zu (vgl. 15, 16, 20).
- Die Ansicht, dass der Nutzen einer prolongierten antibiotischen Therapie (bei chronischer LB) aus dem Spektrum der Alternativmedizin stammt, ist unzutreffend und die Verquickung dieser
falschen Behauptung mit der Arbeit von Stricker unverständlich. Überdies wurde das Problem der chronischen Lyme-Borreliose in zahlreichen Publikationen dargestellt und zur
antibiotischen Behandlung Stellung genommen. Der Vorteil einer antibiotischen Behandlung ist nachgewiesen und entspricht auch klinischen Erfahrungen (17, 18).
- Die Forderung der Autoren, dass zur Entmystifizierung weitere klare wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse über die langfristigen Folgen dieser Infektionskrankheit notwendig seien, belegt
einmal mehr die zur Zeit noch unzureichende Urteilsbasis. Dem Kontext ist zu entnehmen, dass die Autoren durch solche weiteren präzisen wissenschaftlichen Untersuchungen eine „Entmystifizierung
der chronischen Lyme-Borreliose“ erwarten. Wissenschaftliche Untersuchungen sollten jedoch stets ergebnisoffen sein. Die bisher vorliegende Literatur lässt jedoch an der Existenz einer
chronischen Lyme-Borreliose (2, 4, 5, 11, 12, 13, 15, 16) und der Notwendigkeit einer entsprechenden antibiotischen Behandlung keinen Zweifel (17).
- Obwohl die Autoren weitere umfassende präzise wissenschaftliche Untersuchungen zur Klärung der Zusammenhänge fordern, stellen sie apodiktisch fest, dass „Folgezustände nach
Borrelia-burgdorferi-Infektionen symptomatisch behandelt werden“. Die Wiederholung antibiotischer Behandlungen sind nach Ansicht der Autoren nicht indiziert. Eine Begründung durch
Literaturhinweise erfolgt nicht.