(Vorbemerkung des Verfassers: Der Text basiert auf einem Interview, das die Zeitschrift „Nervenarzt“ mit Prof. Rauer führte, dem federführenden Mitglied der Steuergruppe bei Aktualisierung der Leitlinie „Neuroborreliose“).
Im Folgenden werden die wesentlichen Inhalte zitiert (Zitat) und jeweils anschließend kommentiert (Stellungnahme).
Der Text beginnt mit einer Zusammenfassung der Interviewerin. Hierin heißt es:
„Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie hat die Leitlinie „Neuroborreliose“ von einer S1- zur S3-Leitlinie weiterentwickelt“.
Tatsächlich handelt es sich keineswegs um eine S3-Leitlinie, da keine ausreichende evidenzbasierte wissenschaftliche Literatur vorliegt. Entsprechend wird im Interview von Prof. Rauer nicht behauptet oder bestätigt, dass die neue Leitlinie ein S3-Niveau hat. Dennoch benutzt er den Begriff „S3-Leitlinie“ im Interview. In der Zusammenfassung der Interviewerin wird zudem behauptet, dass eine Langzeittherapie mit Antibiotikum nach Auswertung der Studienlage nicht haltbar sei. Diese Behauptung wird auch im Interview selbst erhoben und mit „Auswertung der Studienlage“ belegt. Tatsächlich liegen auch zu dieser Problematik keine evidenzbasierten Studien vor.
Zitat
Ein Mitarbeiter des Cochrane-Instituts führte Literaturrecherchen durch. Diese Arbeiten bilden die Grundlage der neuen Leitlinie. Durch diesen Evidenzprozess wurden die Empfehlungen zur antibiotischen Behandlung in der vorausgehenden S1-Leitlinie bestätigt.
Stellungnahme
Die Recherche des Cochrane-Centers zu verschiedenen Themen hatte folgende Ergebnisse:
Sonstige Recherchen im Zusammenhang mit der LL „Neuroborreliose“ wurden nicht durchgeführt.
Zitat
Bei liquordiagnostisch gesicherter Neuroborreliose ist der Krankheitsverlauf dagegen überwiegend gutartig. Das Nichtansprechen auf eine antibiotische Therapie ist dadurch bedingt, dass keine Neuroborreliose vorliegt, sondern eine andere Erkrankung, die nicht auf Antibiotika anspricht.
Stellungnahme
Bei Patienten mit wahrscheinlicher oder sicherer Lyme-Neuroborreliose (entzündliche Liquorveränderungen) betrug nach durchgeführter antibiotischer Behandlung die Prävalenz persistierender Symptome 24 % der Fälle.
Zitat
Neu ist, dass die S3-Leitlinie auch für die Neuroborreliose im Kindes- und Jugendalter gilt. Der gesamte Evidenz- und Konsensprozess wurde auf die Situation bei Kindern ausgeweitet.
Stellungnahme
Tatsächlich ergab sich bei der Recherche des Cochrane-Center, dass die diesbezügliche Literatur insgesamt eine sehr niedrige Qualität aufwies.
Zitat
Der Evidenzprozess zu Diagnostik und Therapie wurde formal auf ein stabiles Fundament gestellt.
Stellungnahme
Tatsächlich betrafen die Recherchen des Cochrane-Center nicht die Diagnostik der Lyme-Neuroborreliose, sondern lediglich die Behandlung. Die entsprechende Literatur wies eine niedrige oder sehr niedrige Qualität auf.
Zitat
Die S2k-Leitlinie der Dermatologie wird jetzt zur S3-Leitlinie weiterentwickelt.
Stellungnahme
Diese Absicht wird nicht erläutert, überdies ist auch auf dem dermatologischen Bereich eine S3-Leitlinie angesichts der unzureichenden Literatur kaum möglich. Nur die diagnostische Wertigkeit eines Erythema migrans als krankheitsbeweisende Manifestation des Frühstadiums und das gute Ansprechen des Erythema migrans auf Antibiotika kann durch Literatur belegt werden, die einem S3-Niveau entspricht.
Zitat
In der Konsensgruppe sind alle Fachrichtungen vertreten, die mit dem Krankheitsbild zu tun haben.
Stellungnahme
Die Zusammensetzung der Leitliniengruppe ist nach dem Programm für Nationale Versorgungsleitlinien geregelt. Träger sind Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung und Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften. Die Organisation obliegt dem Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin. Gefordert wird, dass die Mandatsträger in der Leitliniengruppe soweit möglich praktisch tätige niedergelassene Ärzte sind. Diese Voraussetzung ist bei der Leitliniengruppe „Neuroborreliose“ nicht gegeben.
Zitat
Spätmanifestationen der Lyme-Neuroborreliose sind nach unserer Einschätzung Raritäten.
Stellungnahme
Die Ansicht wird weder begründet noch erläutert.
Zitat
Die meisten Neuroborreliose werden frühzeitig erkannt und fachgerecht behandelt.
Stellungnahme
Auch diese Behauptung ist willkürlich und entbehrt einer Begründung.
Zitat
Der Lymphozytentransformationstest soll eine chronische Borreliose nachweisen.
Stellungnahme
Die Diagnose einer chronischen Borreliose, also einer Lyme-Borreliose im Spätstadium basiert auf Anamnese, medizinisch-technischen Vorbefunden, körperlichem Untersuchungsbefund, aktuellen medizinisch-technischen Befunden und der Differentialdiagnose. Der LTT ist bei pathologischem Ergebnis ein Indiz, jedoch kein Beweis, dass eine Lyme-Borreliose im Spätstadium vorliegt.
Zitat
Die chronische Lyme-Borreliose weist (angeblich) zum Teil keine Antikörper auf.
Stellungnahme
Gemeint ist offensichtlich die Lyme-Borreliose im Spätstadium, deren Existenz in der Medizin nicht im Geringsten bestritten wird. Auf der Basis umfangreicher Literatur ist festzustellen, dass bei der Lyme-Borreliose im Spätstadium in etwa 30 % Antikörper nicht vorliegen, also Seronegativität besteht.
Zitat
Das Fehlen von Antikörpern bei einer Lyme-Borreliose im Spätstadium ist mit der Lehre der Infektionspathophysiologie nicht vereinbar.
Stellungnahme
Tatsache ist, dass in der Literatur in 30 % der Fälle Seronegativität im Spätstadium nachgewiesen wurde. Es ist unverständlich, dass eine angeblich wissenschaftliche Grundüberzeugung höher eingestuft wird als Tatsachen, die in Studien festgestellt wurden.
Zitat
Langzeitantibiose ist nach Auswertung der Studienlage nicht haltbar. Die Evidenzlage zum Verlauf der Neuroborreliose spricht eine andere Sprache.
Stellungnahme
Im Zusammenhang mit den Recherchen des Cochrane-Centers wurde oben bereits festgestellt, dass nach antibiotischer Behandlung einer wahrscheinlichen oder gesicherten Lyme-Neuroborreliose (entzündlicher Liquor) in 24 % der Fälle Krankheitssymptome nach der antibiotischen Behandlung persistieren.
Zitat
Als Leitlinie besitzt die Publikation in Deutschland und im deutschsprachigen Raum Gültigkeit und hat einen sehr hohen Stellenwert vor einem deutschsprachigen Gericht.
Stellungnahme
Zunächst sei darauf hingewiesen, dass neurologische Symptome, die in ihrer Summe als Neuroborreliose bezeichnet werden, nur bei 15 % der Fälle vorkommen. Es ist daher unverständlich, dass die Leitlinie „Neuroborreliose“ zur Grundlage auf forensischer Ebene gemacht wird, wie dies bereits vor Jahren von hohen deutschen Gerichten (OLG Köln, OLG München) geäußert wurde.