Öffentlichkeitsarbeit


Neuroborreliose: S3-Leitlinie gibt Ärzten und Patienten endlich Sicherheit

Nervenarzt 2017. 88:1468-1488

Epikrise und kritische Stellungnahme von W. Berghoff


(Vorbemerkung des Verfassers: Der Text basiert auf einem Interview, das die Zeitschrift „Nervenarzt“ mit Prof. Rauer führte, dem federführenden Mitglied der Steuergruppe bei Aktualisierung der Leitlinie „Neuroborreliose“).

 

Im Folgenden werden die wesentlichen Inhalte zitiert (Zitat) und jeweils anschließend kommentiert (Stellungnahme).

 

Der Text beginnt mit einer Zusammenfassung der Interviewerin. Hierin heißt es:

 

„Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie hat die Leitlinie „Neuroborreliose“ von einer S1- zur S3-Leitlinie weiterentwickelt“. 

 

Tatsächlich handelt es sich keineswegs um eine S3-Leitlinie, da keine ausreichende evidenzbasierte wissenschaftliche Literatur vorliegt. Entsprechend wird im Interview von Prof. Rauer nicht behauptet oder bestätigt, dass die neue Leitlinie ein S3-Niveau hat. Dennoch benutzt er den Begriff „S3-Leitlinie“ im Interview. In der Zusammenfassung der Interviewerin wird zudem behauptet, dass eine Langzeittherapie mit Antibiotikum nach Auswertung der Studienlage nicht haltbar sei. Diese Behauptung wird auch im Interview selbst erhoben und mit „Auswertung der Studienlage“ belegt. Tatsächlich liegen auch zu dieser Problematik keine evidenzbasierten Studien vor.

 

Zitat

 

Ein Mitarbeiter des Cochrane-Instituts führte Literaturrecherchen durch. Diese Arbeiten bilden die Grundlage der neuen Leitlinie. Durch diesen Evidenzprozess wurden die Empfehlungen zur antibiotischen Behandlung in der vorausgehenden S1-Leitlinie bestätigt.

 

Stellungnahme

 

Die Recherche des Cochrane-Centers zu verschiedenen Themen hatte folgende Ergebnisse:

  • Die Qualität nationaler und internationaler Leitlinien zur Neuroborreliose wiesen eine unzureichende Qualität auf, so dass eine erneute (eigene) Literaturrecherche durchgeführt wurde
  • Publikationen zur antibiotischen Behandlung der Lyme-Neuroborreliose hatten alle eine niedrige oder sehr niedrige Qualität
  • Literatur zur antibiotischen Behandlung der Neuroborreliose bei Kindern hatten eine sehr niedrige Qualität
  • Zum Verlauf der Neuroborreliose ergab die Recherche, dass Residualsymptome nach antibiotischer Behandlung der Lyme-Neuroborreliose bei 28 % der Fälle vorlagen. Weitergehende Aussagen enthält die Recherche nicht. Es wird darauf hingewiesen, dass „nach Meinung von Autoren die in den Studien berichteten untypischen Symptome nach Neuroborreliose zum erheblichen Teil auf Studienartefakte infolge unscharfer Falldefinition zurückzuführen sind“

Sonstige Recherchen im Zusammenhang mit der LL „Neuroborreliose“ wurden nicht durchgeführt.

 

Zitat

 

Bei liquordiagnostisch gesicherter Neuroborreliose ist der Krankheitsverlauf dagegen überwiegend gutartig. Das Nichtansprechen auf eine antibiotische Therapie ist dadurch bedingt, dass keine Neuroborreliose vorliegt, sondern eine andere Erkrankung, die nicht auf Antibiotika anspricht.

 

Stellungnahme

 

Bei Patienten mit wahrscheinlicher oder sicherer Lyme-Neuroborreliose (entzündliche Liquorveränderungen) betrug nach durchgeführter antibiotischer Behandlung die Prävalenz persistierender Symptome 24 % der Fälle.

 

Zitat

 

Neu ist, dass die S3-Leitlinie auch für die Neuroborreliose im Kindes- und Jugendalter gilt. Der gesamte Evidenz- und Konsensprozess wurde auf die Situation bei Kindern ausgeweitet.

 

Stellungnahme

 

Tatsächlich ergab sich bei der Recherche des Cochrane-Center, dass die diesbezügliche Literatur insgesamt eine sehr niedrige Qualität aufwies.

 

Zitat

 

Der Evidenzprozess zu Diagnostik und Therapie wurde formal auf ein stabiles Fundament gestellt.

 

Stellungnahme

 

Tatsächlich betrafen die Recherchen des Cochrane-Center nicht die Diagnostik der Lyme-Neuroborreliose, sondern lediglich die Behandlung. Die entsprechende Literatur wies eine niedrige oder sehr niedrige Qualität auf.

 

Zitat

 

Die S2k-Leitlinie der Dermatologie wird jetzt zur S3-Leitlinie weiterentwickelt.

 

Stellungnahme

 

Diese Absicht wird nicht erläutert, überdies ist auch auf dem dermatologischen Bereich eine S3-Leitlinie angesichts der unzureichenden Literatur kaum möglich. Nur die diagnostische Wertigkeit eines Erythema migrans als krankheitsbeweisende Manifestation des Frühstadiums und das gute Ansprechen des Erythema migrans auf Antibiotika kann durch Literatur belegt werden, die einem S3-Niveau entspricht.

 

Zitat

 

In der Konsensgruppe sind alle Fachrichtungen vertreten, die mit dem Krankheitsbild zu tun haben.

 

Stellungnahme

 

Die Zusammensetzung der Leitliniengruppe ist nach dem Programm für Nationale Versorgungsleitlinien geregelt. Träger sind Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung und Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften. Die Organisation obliegt dem Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin. Gefordert wird, dass die Mandatsträger in der Leitliniengruppe soweit möglich praktisch tätige niedergelassene Ärzte sind. Diese Voraussetzung ist bei der Leitliniengruppe „Neuroborreliose“ nicht gegeben.

 

Zitat

 

Spätmanifestationen der Lyme-Neuroborreliose sind nach unserer Einschätzung Raritäten.

 

Stellungnahme

 

Die Ansicht wird weder begründet noch erläutert.

 

Zitat

 

Die meisten Neuroborreliose werden frühzeitig erkannt und fachgerecht behandelt.

 

Stellungnahme

 

Auch diese Behauptung ist willkürlich und entbehrt einer Begründung.

 

Zitat

 

Der Lymphozytentransformationstest soll eine chronische Borreliose nachweisen.

 

Stellungnahme

 

Die Diagnose einer chronischen Borreliose, also einer Lyme-Borreliose im Spätstadium basiert auf Anamnese, medizinisch-technischen Vorbefunden, körperlichem Untersuchungsbefund, aktuellen medizinisch-technischen Befunden und der Differentialdiagnose. Der LTT ist bei pathologischem Ergebnis ein Indiz, jedoch kein Beweis, dass eine Lyme-Borreliose im Spätstadium vorliegt.

 

Zitat

 

Die chronische Lyme-Borreliose weist (angeblich) zum Teil keine Antikörper auf.

 

Stellungnahme

 

Gemeint ist offensichtlich die Lyme-Borreliose im Spätstadium, deren Existenz in der Medizin nicht im Geringsten bestritten wird. Auf der Basis umfangreicher Literatur ist festzustellen, dass bei der Lyme-Borreliose im Spätstadium in etwa 30 % Antikörper nicht vorliegen, also Seronegativität besteht.

 

Zitat

 

Das Fehlen von Antikörpern bei einer Lyme-Borreliose im Spätstadium ist mit der Lehre der Infektionspathophysiologie nicht vereinbar.

 

Stellungnahme

 

Tatsache ist, dass in der Literatur in 30 % der Fälle Seronegativität im Spätstadium nachgewiesen wurde. Es ist unverständlich, dass eine angeblich wissenschaftliche Grundüberzeugung höher eingestuft wird als Tatsachen, die in Studien festgestellt wurden.

 

Zitat

 

Langzeitantibiose ist nach Auswertung der Studienlage nicht haltbar. Die Evidenzlage zum Verlauf der Neuroborreliose spricht eine andere Sprache.

 

Stellungnahme

 

Im Zusammenhang mit den Recherchen des Cochrane-Centers wurde oben bereits festgestellt, dass nach antibiotischer Behandlung einer wahrscheinlichen oder gesicherten Lyme-Neuroborreliose (entzündlicher Liquor) in 24 % der Fälle Krankheitssymptome nach der antibiotischen Behandlung persistieren.

 

Zitat

 

Als Leitlinie besitzt die Publikation in Deutschland und im deutschsprachigen Raum Gültigkeit und hat einen sehr hohen Stellenwert vor einem deutschsprachigen Gericht.

 

Stellungnahme

 

Zunächst sei darauf hingewiesen, dass neurologische Symptome, die in ihrer Summe als Neuroborreliose bezeichnet werden, nur bei 15 % der Fälle vorkommen. Es ist daher unverständlich, dass die Leitlinie „Neuroborreliose“ zur Grundlage auf  forensischer Ebene gemacht wird, wie dies bereits vor Jahren von hohen deutschen Gerichten (OLG Köln, OLG München) geäußert wurde.