Öffentlichkeitsarbeit


Stellungnahme zum Artikel „Neuroborreliose“, Deutsches Ärzteblatt 45, 2018

von W. Berghoff


Die folgende Stellungnahme bezieht sich auf den Artikel „Klinische Leitlinie, Neuroborreliose“, von Rauer et al, Deutsches Ärzteblatt, Heft 45, 09.11.2018. Es handelt sich um einen Übersichtstext über die Leitlinie „Neuroborreliose“ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), 2018.

 

Vorbemerkung

 

Die Neuroborreliose (Lyme-Neuroborreliose, LNB) bezeichnet die Summe neurologischer Symptome im Rahmen einer Borreliose. Neurologische Symptome kommen bei 15% der Patienten vor, die LNB ist also für die Lyme-Borreliose (LB) mit Erkrankung anderer Organe (außer Nervensystem) nicht obligat. Das Fehlen einer LNB schließt also eine generalisierte LB nicht aus.

 

Hauptproblem der LB ist ihre Tendenz zur Chronifizierung, d.h. die Entwicklung eines Spätstadiums. Eine LB oder LNB im Spätstadium bereitet bei Diagnostik und vor allem bei der Therapie erhebliche Probleme, im Gegensatz zum Frühstadium.

 

Die LB im Spätstadium geht mit einer persistierenden Infektion einher. Die Begriffe „chronische LB“ und „LB im Spätstadium“ (late Lyme disease) stellen Synonyma dar. Obwohl das Spätstadium der Lyme-Borreliose als Hauptproblem in der Literatur umfangreich dargestellt ist, wird in der Leitlinie der DGN eine chronische Lyme- Borreliose weitgehend negiert.

 

Andererseits wird in der Leitlinie der DGN ausdrücklich festgestellt, dass zur Diagnostik und Therapie der LB und LNB im Spätstadium keine evidenzbasierten Studien vorliegen. In Anbetracht der unzureichenden Literaturbasis sind jegliche Empfehlungen hinsichtlich Diagnostik, Krankheitsverlauf und Behandlung zu relativieren. 

 

Diese Limitierung durch mangelhafte Literatur wird zwar in der LL „Neuroborreliose“ der DGN eindeutig festgestellt, die praktische Umsetzung, d.h. die Inhalte und Empfehlungen der DGN werden jedoch nicht relativiert. Vielmehr enthält die Leitlinie zahlreiche Feststellungen und Empfehlungen, die durch Literatur nicht belegbar sind oder die sich auf qualitativ unzureichende Literatur beziehen.

 

Stellungnahme zum Artikel

 

Die Leitlinie „Neuroborreliose“ der DGN stellt keine S3-Leitlinie dar. Vielmehr handelt es sich insbesondere im Hinblick auf die Lyme-Borreliose im Spätstadium um eine S2k-Leitlinie, die auf einer strukturierten Konsensfindung beruht, jedoch nicht durch evidenzbasierte Literatur belegbar ist. Die Behauptung, dass es sich um eine S3- Leitlinie handelt, ist unzutreffend. Die wahrheitswidrige Behauptung stellt eine Irreführung der Allgemeinheit dar und gereicht zu erheblichem Schaden der Patienten auf medizinischer und forensischer Ebene.

 

Diese Einschätzung ändert sich auch nicht aufgrund der Tatsache, dass die Leitlinie offiziell als „Entwicklungsstufe 3“ deklariert ist. Der Begriff „S3-Leitlinie“ wird in der Leitlinie selbst nicht erwähnt.

 

Entsprechend dem AWMF-Regelwerk wird bei einer Leitlinie der Klassifikationsgrad angegeben. Im Text der Leitlinie selbst werden zu den wesentlichen Inhalten Evidenzgrad und davon abhängig Empfehlungsstärke benannt. Dies ist bei der LL „Neuroborreliose“ DGN 2018 nicht der Fall.

 

Die Leitlinienklassifikation erfolgt nach dem Evidenzgrad der zugrunde gelegten Literatur, der Zusammensetzung der Entwicklungsgruppe und der Konsensfindung. Dementsprechend werden folgende Klassifikationsgrade unterschieden: 

  • S1-Klasse: ohne Evidenzbasierung und ohne strukturierte Konsensfindung

  • S2e-Klasse: nicht repräsentative Entwicklungsgruppe, Inhalt basiert auf Evidenz wissenschaftlicher Belege
  • S2k-Klasse: keine Evidenzbasierung, Klassifikationsgrad beruht allein auf strukturierte Konsensfindung 
  • S3-Klasse: systematische Evidenzbasierung, repräsentative Entwicklungsgruppe, strukturierte Konsensfindung

Die vorausgehende Leitlinie „Neuroborreliose“ der DGN entsprach der S1-Klasse. Die aktuelle Leitlinie 2018 wird willkürlich und trotz fehlender Voraussetzung als S3- Leitlinie bezeichnet.

 

In der LL „Neuroborreliose“ der DGN 2018 werden an keiner Stelle Evidenzgrad und hieraus resultierende Empfehlungsstärke benannt. Ohne Bezug auf evidenzbasierte Studien wird lediglich an einigen Stellen mit einem oder zwei senkrechten Pfeilen die Empfehlung symbolisiert. Diese symbolisierte Empfehlungsstärke basiert auf den jeweiligen Abstimmungen der Konsensusgruppe, also nicht auf evidenzbasierter Literatur.

 

Der Unterschied zwischen der vorausgehenden S1-Leitlinie und der aktualisierten Leitlinie 2018 ist allein durch die zuletzt durchgeführte strukturierte Konsensfindung gekennzeichnet.

 

Im Artikel wird hervorgehoben, dass zur Aktualisierung der LL 2018 eine systematische Recherche und Bewertung wissenschaftlicher Literatur am Deutschen Cochrane Zentrum Freiburg erfolgte. Diese Cochrane-Recherche erbrachte für das Frühstadium belastbare wissenschaftliche Literatur, nicht jedoch für das Spätstadium, dem Hauptproblem der LB. Die Recherche hatte im Wesentlichen folgende Ergebnisse: 

  • Die Qualität nationaler und internationaler Leitlinien zur LNB weisen eine unzureichende Qualität auf, so dass eine erneute (eigene) Literaturrecherche durchgeführt wurde
  • Publikationen zur antibiotischen Behandlung der LNB haben alle eine niedrige oder sehr niedrige Qualität (also auch im Hinblick auf das Frühstadium)
  • + Literatur zur antibiotischen Behandlung der LNB bei Kindern hat eine sehr niedrige Qualität
  • Zum Verlauf der Lyme-Neuroborreliose ergab die Recherche, dass Residualsymptome nach antibiotischer Behandlung in 28% der Fälle vorlagen. Ob es sich bei diesen „Residualsymptomen“ um eine persistierende Lyme-Borreliose handelte, geht aus der Literatur nicht hervor.

Der Leitlinienreport (Teil der Leitlinie) enthält auf der Basis der Cochrane-Recherche drei Evidenztabellen (Tab. 7-9) mit folgenden Ergebnissen: 

  • 7: Therapeutischer Effekt Betalactame versus Doxycyclin
    Qualität sehr niedrig
  • 8: Therapeutischer Effekt Penicillin versus Ceftriaxon bei Kindern
    Qualität sehr niedrig

  • 9: Therapeutischer Effekt Kombinationsbehandlung versus antibiotischer Monotherapie bei Kindern
    Qualität sehr niedrig

Insgesamt zeigt sich also, dass die Cochrane-Recherche zu der aktualisierten LL „Neuroborreliose“, 2018 wegen der niedrigen Qualität der Literatur nicht wesentlich beitrug.

 

In der aktualisierten LL, 2018 wird festgestellt, dass bei der späten (chronischen) Neuroborreliose eine antibiotische Behandlung von 14 bis 21 Tagen in der Regel ausreicht. Diese Empfehlung ist willkürlich und durch Literatur nicht belegbar. Offensichtlich wurden die therapeutischen Erfahrungen bei der Lyme-Borreliose im Frühstadium kritiklos auf das problematische Spätstadium (chronische Borreliose) übertragen.

 

Ohne jegliche Begründung und trotz fehlender Literaturbasis wird in der LL 2018 festgestellt, dass bei einer „vermeintlichen“ chronischen Neuroborreliose unspezifische Beschwerden fortbestehen können; empfohlen wird in dieser unklaren klinischen Situation, nicht antibiotisch zu behandeln. Warum die Autoren des Artikels die Einschätzung (unspezifische Symptome) und die empfohlene Unterlassung einer antibiotischen Behandlung in die Leitlinie übernommen haben, bleibt unklar. Ein sorgfältig analysierender Arzt wird grundsätzlich nur dann eine antibiotische Behandlung einleiten, wenn die Diagnose feststeht. 

 

Die Autoren behaupten, dass eine verbreitete Angst grassiert, dass die Lyme- Borreliose trotz antibiotischer Behandlung zu einer Vielzahl unspezifischer Beschwerden wie chronische Schmerzen, Müdigkeit und Konzentrationsstörungen führen kann. Diese Sichtweise würde vielfach zu wiederholten, monatelangen Antibiotika-Gaben, teilweise mit gravierenden Nebenwirkungen führen, die in der Vergangenheit auch einzelne Todesfälle zur Folge hatten. Im Text der Leitlinie bleibt unklar, bei welchen Personen oder Gruppen diese verbreitete Angst grassiert. Die implizierte Behauptung, dass eine antibiotische Behandlung (entsprechend den Empfehlungen der LL 2018) die Beseitigung der LB bzw. LNB garantiert, wird ebenfalls nicht begründet. Unklar ist auch der Begriff „unspezifische Beschwerden“, wie chronische Schmerzen, Müdigkeit und Konzentrationsstörungen, die in der wissenschaftlichen Literatur tatsächlich als Symptome der Lyme-Borreliose im Spätstadium beschrieben sind und deren Auftreten daher die Lyme-Borreliose bei der Differentialdiagnose einschließen müssen. Im gegebenen Fall kann also die vorliegende Symptomatik eines Patienten nicht als „unspezifische Beschwerden“ abgetan oder bagatellisiert werden, vielmehr sollten sie Anlass sein, adäquate diagnostische Maßnahmen zu treffen, um im Rahmen der Differentialdiagnose die Lyme-Borreliose auszuschließen oder zu bestätigen. Dies gilt insbesondere für das Spätstadium der LB, das auch im diagnostischen Bereich erhebliche Probleme aufwirft.

 

Literatur über gravierende Nebenwirkungen bei antibiotischer Behandlung der LB liegt in ausreichender Qualität nicht vor. Unabhängig davon gilt der ärztliche Grundsatz, dass eine relevante Unverträglichkeit von Medikamenten deren Verwendung ausschließt.

 

Die genannten Komplikationen betreffen Arztfehler: zu lange Verweildauer eines Venenkatheters bei Behandlung einer diagnostisch unzureichend belegten chronischen Lyme-Borreliose (letaler Ausgang durch septischen Schock), schwere Clostridien-Infektion bei antibiotischer Langzeitbehandlung wegen vermuteter Lyme- Borreliose, septischer Schock, Osteomyelitis, Colitis durch Clostridium difficile, paraspinaler Abszess durch Behandlung einer chronischen Lyme-Borreliose (wahrscheinlich nach paravertebraler Injektion, Anm. d. Verf.). Dieser zuletzt erwähnte Beitrag ist publiziert unter „MMWR Morb Mortal Wkly Rep.“, also nicht aus einer peer-reviewed medizinischen Fachzeitschrift. Die Einbeziehung solcher unpräziser medizinischer Informationen in die LL der DGN 2018 ist befremdlich, schadet dem Informationswert der LL und die Erwähnung legt eine nicht ärztliche Motivation nahe.

 

Im Artikeltext sind in Kasten 1 die Diagnosekriterien der Neuroborreliose unter Bezugnahme auf die LL „Neuroborreliose“ DGN / 2018 dargestellt. Eine gesicherte Neuroborreliose liegt demnach vor bei typischem klinischen Bild, positivem serologischem Befund im Blut, intrathekalen Antikörpern sowie Pleozytose und Nachweis einer Blut-Liquor-Schrankenstörung.

 

Bei diesen Diagnosekriterien fehlt der wichtige Hinweis, dass die Daten nur für eine akute Lyme-Neuroborreliose gelten und das Vorliegen einer Meningitis voraussetzen. Bei einer Lyme-Neuroborreliose im Spätstadium können diese Kriterien durch Literatur nicht ausreichend belegt werden. Bei dem derzeitigen Wissensstand kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei der zentralen Lyme- Neuroborreliose im Spätstadium eine Pleozytose, d.h. eine Meningitis nicht vorliegt. Es ist denkbar, dass eine chronische Lyme-Borreliose ausschließlich zu entzündlichen Vorgängen im Parenchym des zentralen Nervensystems führt, wie sich dies unter anderem in für die Lyme-Borreliose typischen Marklagerläsionen zeigt. Eine gleiche Situation liegt auch bei der MS vor, die mit chronischen Entzündungen im Parenchym des ZNS vorgeht, bei der jedoch in der Regel keine wesentliche Pleozytose vorliegt. Nur in der Studie von Kaiser, 1994 sind Daten über den Liquorbefund bei der chronischen Lyme-Neuroborreliose enthalten. Allerdings betrifft die Studie diesbezüglich nur 15 Patienten. Sonstige Literatur liegt nicht vor.

 

Vorsorglich sei angemerkt, dass der Liquor bei der generalisierten Lyme-Borreliose ohne Beteiligung des Nervensystems, also bei 85% der Patienten unauffällig ist. In der Studie von Klempner et al, 2001 wurden Patienten mit Lyme-Borreliose im Spätstadium untersucht, bei denen zum Teil auch neurologische Symptome vorlagen. Bei diesen Patienten zeigte der Liquor nur in 5% der Fälle Normabweichungen und dies in nur geringem Umfang. Die häufige Empfehlung bei einer Lyme-Borreliose im Spätstadium zunächst eine Liquoruntersuchung durchzuführen, ist also nicht zielführend. Dies umso mehr, als bei Patienten mit offensichtlichem Hinweis auf eine Lyme-Borreliose im Spätstadium eine Lyme- Neuroborreliose aufgrund eines unauffälligen Liquors (im Wesentlichen wegen fehlender Pleozytose) ausgeschlossen wird. Dabei wird die Tatsache einer Blut- Liquor-Schrankenstörung häufig übergangen und das Vorliegen von intrathekalen Antikörpern nicht ausreichend gewürdigt. Unbestritten ist, dass intrathekale Antikörper noch Jahre nach Abklingen der Borreliose persistieren können, für eine Liquor-Blut-Schrankenstörung liegt diesbezüglich jedoch keine Literatur vor. Es kann also nicht ausgeschlossen werden, dass bei Nachweis einer gestörten Blut-Liquor- Schrankenstörung (Erhöhung von Protein, Albumin) eine persistierende Lyme- Neuroborreliose ursächlich ist.

 

Mit Blick auf die Literatur und auch auf die Leitlinien vermittelt sich der Eindruck, dass die DGN eine Meinungshoheit auf dem Gebiet der Lyme-Borreliose anstrebt. Andere Fachgesellschaften verweigern sich bei der Mitwirkung von Leitlinien zur allgemeinen Lyme-Borreliose oder sehen sich aus Mangel an Expertise oder Kapazität zur Mitwirkung nicht in der Lage. Die Dominanz der Neurologie ist problematisch, da der stark überwiegende Anteil der Patienten mit Lyme- Neuroborreliose das Frühstadium, d.h. die akute Lyme-Neuroborreliose betrifft. Ein solcher Krankheitszustand kommt bei etwa 10% aller Patienten mit Lyme-Borreliose vor, wobei die Radikulitis und die craniellen Neuropathien stark dominieren, während sonstige Manifestationen selten sind. In der täglichen ärztlichen Arbeit werden die Neurologen also im Wesentlichen mit der akuten Lyme-Neuroborreliose konfrontiert, während Patienten mit einer generalisierten Lyme-Borreliose ohne neurologische Manifestationen nicht zum neurologischen Fachgebiet gehören. Die Fachkompetenz der Neurologen hinsichtlich der Lyme-Borreliose ist also begrenzt. Dies gilt insbesondere für die Lyme-Borreliose im Spätstadium ohne neurologische Manifestationen.

 

Wichtig ist der Hinweis in den Leitlinien, dass bei der Lyme-Neuroborreliose nur in 25-50% anamnestisch ein Erythema migrans und in 30% ein Zeckenstich angegeben wird.

 

Eine Infektion des zentralen Nervensystems findet sich laut Leitlinien unter Bezugnahme auf die Publikationen Olfmann et al, 1998 sowie Hansen und Lebech, 1992 nur in 2-4% aller LNB-Fälle, bezogen auf die Gesamtzahl der Patienten mit Lyme-Borreliose also deutlich unter 1%.

 

Eine Polyneuropathie kommt entsprechend der LL DGN, 2018 nur in Verbindung mit einer Acrodermatitis chronica atrophicans vor. Diese Ansicht ist unzutreffend und durch Literatur nicht belegbar. Auffallend ist, dass im Gegensatz zu Europa in den USA häufig Polyneuropathie ohne ACA beobachtet wird.

 

Die Behauptung, dass bei der späten (chronischen) Neuroborreliose grundsätzlich hohe IgG-Antikörperkonzentrationen im Blut nachweisbar sind, lässt sich durch Literatur nicht belegen. Die einzige Publikation zur Lyme-Neuroborreliose im Spätstadium von Kaiser, 2004 hatte eine positive Serologie als Einschlusskriterium. Bei der Behauptung, dass bei der LNB im Spätstadium grundsätzlich IgG-Antikörper im Blut nachweisbar sind, nimmt die LL DGN, 2018 Bezug auf die Arbeit von Fingerle et al (MiQ-Qualitätsstandards, 2017) und die Arbeit von Wilske et al, 2007. Die Arbeit von Fingerle et al, 2017 stützt sich unter anderem auf die Arbeit von Wilske et al, 2007. Diese Arbeit befasst sich jedoch nicht mit der Lyme- Neuroborreliose, sondern vielmehr mit der Serologie bei ACA und Lyme-Arthritis. Die Studie von Wilske et al, 2007 bezieht sich ihrerseits auf zwei methodologische Studien von Hansen und Asbrink, 1989 und Wilske et al, 1993. Beide Studien befassten sich mit der Verbesserung serologischer Testverfahren. Die Studien waren nicht darauf ausgelegt, die Häufigkeit von IgG-AK im Blut bei der Lyme-Borreliose zu erfassen. Es liegen also keine Studien vor, die belegen, dass die Lyme- Neuroborreliose im Spätstadium grundsätzlich mit IgG-AK einhergeht. Vielmehr ist einer sehr umfangreichen Literatur zu entnehmen, dass bei der generalisierten Lyme-Borreliose im Spätstadium bei 30% der Fälle Seronegativität besteht.

 

Im Artikeltext wird in Kasten 2 von Seiten der DGN die Meinung vertreten, dass der Lymphozytentransformationstest als Untersuchungsmethode bei der Neuroborreliose nicht geeignet sei. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass umfangreiche Literatur vorliegt, die den LTT in seiner diagnostischen Wertigkeit bestätigt. Dies gilt allerdings für die generalisierte Lyme-Borreliose, während die Bedeutung des LTT bei der Lyme-Neuroborreliose bisher in Studien nicht untersucht wurde. Die hohe diagnostische Wertigkeit des LTT bei der generalisierten Lyme-Borreliose ergibt sich insbesondere aus den Publikationen von Valentine-Thon et al, 2007 und von von Baehr et al, 2007 mit guter Korrelation zwischen klinischen Daten und LTT. Die Negativbeurteilung des LTT geht auf die Publikation von Auwärter et al, 2011 zurück. Diese Meinungspublikation stützt sich ausschließlich auf die Studie von Zoschke et al, 1991. In dieser Studie an 12 LB-Patienten bzw. 12 gesunden Kontrollpersonen zeigte sich, dass der LTT häufig bei den gesunden Kontrollpersonen positiv war. Die Autoren schlussfolgerten, dass derzeitig (also im Jahr 1991) ein positiver LTT schwer zu interpretieren sei. Die Diskrepanzen zu den positiven Ergebnissen vorausgegangener Studien führten Zoschke et al auf methodische Schwächen ihrer Untersuchungen zurück. Die zahlreichen Studien, in denen die diagnostische Wertigkeit des LTT Borrelien positiv beurteilt wird, bleiben in der Meinungspublikation von Auwärter et al, 2011 unberücksichtigt.

 

Hinsichtlich der antibiotischen Behandlung der LNB im Spätstadium wird in der LL „Neuroborreliose“ DGN, 2018 korrekt festgestellt, dass keine kontrollierten Studien vorliegen, die explizit die Antibiotika-Therapie bei später (chronischer) Neuroborreliose untersucht hätten. Unter Bezugnahme auf die Cochrane-Recherche heißt es in der LL DGN, 2018, dass nur an 15 Patienten mit später (chronischer) Neuroborreliose Therapiestudien durchgeführt wurden. Dies bezieht sich offensichtlich auf die Arbeit von Kaiser, 2004. Bei den in dieser Studie untersuchten 15 Patienten waren ein Jahr nach Antibiotika-Therapie die neurologischen Symptome in 66% vollständig zurückgebildet. Bei den übrigen Patienten trat ebenfalls eine Besserung ein, es waren jedoch noch weiterhin neurologische Symptome vorhanden, im Wesentlichen in Form von Paraparese und Blaseninkontinenz. In den Leitlinien heißt es, dass eine separate Auswertung dieser Fälle aufgrund unvollständiger Daten und wegen geringer Fallzahl nicht möglich sei.

 

Problematisch und unverständlich ist die Schlussfolgerung, die aus diesen spärlichen Literaturdaten gezogen werden. In der LL heißt es: „Eine Auswertung der oben genannten 15 Fälle war nicht möglich. Wenngleich bei diesen Patienten neurologische Residualsymptome deutlich häufiger als bei der frühen Neuroborreliose auftraten, zeigen sich unter den berichteten Fällen keine Anhaltspunkte für Therapieversager. Somit ergibt sich unter Nutzen-Risiko- Abwägung keine wissenschaftliche Grundlage von der bisherigen Empfehlung einer zwei- bis dreiwöchigen Antibiotika-Behandlung bei Patienten mit später (chronischer) Neuroborreliose im Regelfall abzuweichen“. Die Behandlungsdauer von zwei bis drei Wochen wird also mit der Feststellung begründet, dass keine Anhaltspunkte für Therapieversager bei den 15 Patienten nachgewiesen wurden. Tatsächlich wurde nur bei 66% der Patienten die neurologische Symptomatik beseitigt. In der LL DGN, 2018 wird also im Wesentlichen auf die 15 Patienten mit LNB im zentralen Nervensystem Bezug genommen (Kaiser et al, 2004), eine Auswertung der Studie wird wegen unvollständiger Daten und geringer Fallzahl als unmöglich bezeichnet. Trotzdem wird diese Studie (als einzige Literaturstelle) als Grund für die zwei- bis dreiwöchige Antibiotika-Behandlung der späten (chronischen) Neuroborreliose zu Grunde gelegt. Schließlich wird in der LL „Neuroborreliose“ DGN, 2018 zur Problematik „Post-Treatment Lyme Disease Syndrome“ Stellung genommen. In der LL heißt es, dass seit Jahrzehnten eine kontroverse Diskussion darüber geführt wird, ob es nach einer fachgerecht behandelten Neuroborreliose zu chronischen Krankheitsbildern mit Allgemeinbeschwerden kommen kann, ohne dass ein entzündlich infektiöser Prozess mit generell akzeptierten labordiagnostischen Methoden nachweisbar ist. In diesen Fällen wurden Begriffe wie „Post-Treatment Lyme Disease Syndrome“ (PTLDS), „(Post-)Lyme-Encephalopathie“ oder einfach „chronische (Neuro)Borreliose“ ohne klare inhaltliche Abgrenzung voneinander verwendet. Im Rahmen einer Med-Analyse (gemeint ist die Cochrane-Recherche der DGN vor Erstellung der LL „Neuroborreliose“) zeigte sich, dass persistierende Beschwerden häufiger bei Patienten vorkommen, bei denen die Diagnose einer LNB im Krankheitsverlauf nicht gesichert worden war. Die Daten sprächen dafür, dass die in älteren Studien gefundenen hohen Prävalenzen von unspezifischen Langzeitbeschwerden durch Studienartefakte zu erklären sein könnten.

 

Zunächst sei darauf hingewiesen, dass das Kapitel 4.3.1 der LL „Neuroborreliose“ DGN, 2018 folgende einleitende Passage enthält: „Beim so genannten PTLDS handelt es sich um ein wissenschaftlich bislang nicht allgemein gültig definiertes und deshalb nicht einheitlich akzeptiertes Syndrom, das diagnostisch von gesicherten Spätmanifestationen der Lyme-Borreliose, Beschwerden durch Persistenz vermehrungsfähiger Erreger und durch Defektheilung bedingte Symptome abzugrenzen ist“. 

 

Post-Lyme-Syndrom (PLS), Post-Treatment-Lyme-Disease-Syndrome (PTLDS), residuale Symptome, residuales Syndrom und Restbeschwerden stellen Synonyma dar. Wie in der LL DGN, 2018 dargestellt, ist das PTLDS keine definierte Krankheit (nosologische Entität). Aus begrifflichen Gründen und aufgrund des Beschwerdeverlaufes ist davon auszugehen, dass zwischen der Lyme-Borreliose und dem PTLDS ein Kausalzusammenhang besteht. Wie in der LL DGN, 2018 festgestellt, gibt es keine Literatur über die Abgrenzung eines PTLDS gegenüber einer Lyme-Borreliose im Spätstadium.

 

Das Post-Lyme-Syndrom (PLS) und das nachfolgend literarisch eingeführte Post- Treatment-Lyme-Disease-Syndrome (PTLDS) sind hypothetische Begriffe mit hypothetischer Prämisse. Der Begriff PTLDS geht auf Empfehlungen der IDSA (Infectious Disease Society of America) in deren letztmals aktualisierten Leitlinie 2010 zurück. Der Begriff PTLDS wurde von der IDSA zur Bezeichnung einer Beschwerdesymptomatik vorgeschlagen, die bei Patienten mit gesichertem anamnestischem Hinweis auf eine Lyme-Borreliose (in der Regel Erythema migrans) nach einer so genannten adäquaten antibiotischen Therapie nach Standard nicht beschwerdefrei wurden. Vielmehr persistierten (teilweise) Symptome, die vor der antibiotischen Behandlung vorlagen. In diesem Zusammenhang wurde in der Literatur (implizit) angenommen, dass die antibiotische Behandlung nach Standard die Beseitigung der Lyme-Borreliose garantiere. Ein hoher therapeutischer Erfolg bei antibiotischer Behandlung der Lyme-Borreliose wurde jedoch nur für das Erythema migrans und für die akute Lyme-Neuroborreliose, d.h. das Frühstadium der Lyme- Borreliose wissenschaftlich belegt. Für das Spätstadium liegt ein derartiger Beweis in Form von evidenzbasierten Studien nicht vor. Vielmehr ist in der Literatur das Versagen einer antibiotischen Behandlung, insbesondere bei der Lyme-Borreliose im Spätstadium vielfach beschrieben und zwar auf der Basis des klinischen Bildes und des Erregernachweises.

 

Da die Prämisse (antibiotische Behandlung nach Standard garantiert Beseitigung der LB) bereits eine Hypothese darstellt, ist auch die Schlussfolgerung hypothetisch, dass nämlich die persistierenden Beschwerden einer LB nach antibiotischer Behandlung ein (eigenständiges) Syndrom darstellen. Die im Text der LL DGN, 2018 enthaltene Formulierung „das PTLDS ist von Beschwerden durch Persistenz vermehrungsfähiger Erreger abzugrenzen“ ist unlogisch. Eine Unterscheidung zwischen einer Tatsache, nämlich einer Lyme-Borreliose im Spätstadium (Persistenz vermehrungsfähiger Erreger) und einer Hypothese (garantierte Heilung durch Antibiotika) ist nicht möglich. Unterscheidung zwischen Tatsache und Hypothese ist mit den Gesetzen der Logik nicht vereinbar.

 

In der praktizierten Medizin und auch in forensischen Zusammenhängen wird ein Kausalzusammenhang zwischen aufgetretener Lyme-Borreliose und dem PTLDS (oft) verneint. Die hypothetische Annahme eines PTLDS führt auf diese Weise zur Unterlassung einer kausalen (antiinfektiösen) Behandlung und im forensischen Bereich zur Verneinung des Kausalzusammenhanges zwischen Beschwerdesymptomatik (so genanntes PTLDS) und Lyme-Borreliose.

 

Überdies ist zu beachten, dass in der LL „Neuroborreliose“ DGN, 2018 ausschließlich Symptome aufgeführt werden, die nicht mit dem Nervensystem im Zusammenhang stehen, also einer Lyme-Neuroborreliose nicht zuzuordnen sind.

 

Weitgehend in Übereinstimmung mit den Ausführungen in der LL DGN, 2018 ergibt sich das Fazit, dass ein PTLDS eine Hypothese darstellt und von einer Lyme- Neuroborreliose und auch von einer generalisierten Lyme-Borreliose ohne neurologische Symptome im Spätstadium nicht abgrenzbar ist.

 

Unzutreffend in der LL DGN, 2018 ist auch die Behauptung, dass das PTLDS oder PTLDS-artige Beschwerden in den Studien Klempner et al, 2001, Fallon et al, 2008, Krupp et al, 2003 und Kaplan et al, 2003 untersucht wurden. Tatsächlich befasst sich die Publikation von Klempner et al, 2001 nicht mit dem PTLDS (der Begriff wurde erst 2010 von der IDSA vorgeschlagen), sondern mit der Effizienz einer antibiotischen Nachbehandlung chronisch persistierender Symptome der Lyme- Borreliose nach vorausgegangenen, meist mehrfachen antibiotischen Vorbehandlungen bei seropositiven und seronegativen Patienten. Die Autoren benutzten den Ausdruck „chronische Lyme-Borreliose“, nicht aber Begriffe wie „Post- Lyme-Syndrom“ (PLS) oder gar PTLDS. Bei der Studie von Klempner et al wurden von Beginn der Studie durchschnittlich drei antibiotische Behandlungszyklen durchgeführt mit einer Gesamtdauer von etwa 50-65 Tagen. Die Ersterkrankung bestand im Wesentlichen in einem Erythema migrans oder einer akuten Neuroborreliose. – Die Arbeit von Kaplan et al, 2003 entspricht in Design und untersuchten Kollektiven der Publikation von Klempner et al, 2001, bezieht sich jedoch im Wesentlichen auf kognitive und soziale Funktionen, die Stimmungslage und Schmerzen. Benutzt wird der Ausdruck „Post-Treatment Chronic Lyme Disease (PTCLD)“ und nicht PLS. – In der Arbeit von Krupp et al, 2003 führte die antibiotische Behandlung im Rahmen der Studie zu einer signifikanten Besserung des Fatigue, nicht jedoch der kognitiven Störungen. Allerdings ergaben sich in der Arbeit von Kaplan et al, 2003 sowie Krupp et al, 2003 Besserungen der kognitiven Leistungen bei Selbsteinschätzung durch die Patienten. Auch die Publikation Fallon et al, 2008 befasst sich nicht mit dem PTLDS, sondern mit der Effizienz einer antibiotischen Nachbehandlung bei Encephalopathie. Die Autoren forderten in ihrer Publikation, dass bei persistierender Störung der Kognition Behandlungsstrategien mit nachhaltiger Wirkung benötigt werden.

 

Entscheidend ist, dass entgegen der Behauptung in der LL DGN, 2018 diese Publikationen sich nicht mit dem PTLDS befassen, das erst 2010 in die Diskussion eingeführt wurde, also mehrere Jahre nach Erscheinen der Publikationen.

 

Auch die Behauptung im Artikeltext, dass keine der Autorengruppen bei PTLDS oder PTLDS-artigen Beschwerden eine Nachbehandlung mit Antibiotika empfiehlt, ist unzutreffend; ein PTLDS ist als Begriff in den Publikationen überhaupt nicht enthalten, da der Begriff erst einige Jahre später eingeführt wurde.

 

Bezüglich weiterer Einzelheiten und insbesondere hinsichtlich Literaturhinweisen sei auf den Dissensbericht der Deutschen Borreliose Gesellschaft (DBG) im Leitlinienreport verwiesen. Der Leitlinienreport ist Teil der Leitlinie „Neuroborreliose“ der DGN, 2018 und ist für die Öffentlichkeit zugänglich. www.dgn.org/leitlinien.