Lehrbuch Lyme-Borreliose


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Problematik der chronischen LB


Die skeptische Einstellung gegenüber der Lyme-Borreliose im Stadium III (chronische Lyme-Borreliose) und deren Häufigkeit hat ihren wesentlichen Ursprung in der Publikation von Steere et al., 1993 (1). Bei der Publikation handelt es sich um eine retrospektive Studie an 788 Patienten, die zur stationären Untersuchung überwiesen wurden unter dem Verdacht einer Lyme-Borreliose. 23% dieser Patienten litten an einer aktiven Lyme-Borreliose meistens mit Arthritis, Encephalopathie und Polyneuropathie. 20% hatten definitiv eine vorausgehende Lyme-Borreliose. Jedoch wurden bei der stationären Überprüfung andere Krankheiten, also keine Lyme-Borreliose als Ursache der Beschwerdesymptomatik, diagnostiziert. Bei diesen (angeblichen) Fällen mit der Fehldiagnose Lyme-Borreliose entfielen die meisten auf die Krankheitsbilder chronisches Ermüdungssyndrom (chronic fatigue syndrome, CFS) oder Fibromyalgie. Bei der Hälfte dieser Patienten traten CFS und Fibromyalgie kurz nach einer vorausgehenden Lyme-Borreliose auf. 57% der stationär nachuntersuchten Patienten litten angeblich nicht an einer Lyme-Borreliose, vielmehr wurde bei der Mehrzahl dieser Patienten bei der Nachuntersuchung CFS oder Fibromyalgie diagnostiziert. Ein geringerer Teil litt an rheumatischen und neurologischen Krankheiten. Der Anteil der Patienten, bei denen eine persistierende Lyme-Borreliose ausgeschlossen wurde, hatte bei vorausgehenden Laboruntersuchungen eine positive Serologie gezeigt, bei der stationären Nachuntersuchung ergab sich dagegen Seronegativität. Gut die Hälfte der nachuntersuchten Patienten waren zuvor wegen Lyme-Borreliose antibiotisch behandelt worden. Dabei zeigten sich in 79% Therapieversager, d.h. die Antibiose führte nicht zu einer Besserung der Beschwerdesymptomatik. Die Autoren führen dieses Therapieversagen auf die Fehldiagnosen zurück, d.h. die antibiotische Behandlung war nach Auffassung der Autoren unwirksam, da tatsächlich keine Lyme-Borreliose vorgelegen hatte, sondern eine andere Erkrankung, die nicht auf Antibiotika anspricht.

Im Hinblick auf diese maßgebliche Publikation von Steere et al., 1993 sind kritische Anmerkungen angebracht:

Die Krankheitsbilder CFS und Fibromyalgie sind bis heute als nosologische Entität nicht definiert und werden kontrovers diskutiert. Fatigue und Muskel-Skelett-Beschwerden sind sehr häufige Symptome der Lyme-Borreliose, insbesondere auch im Stadium III. Die Art der durchgeführten antibiotischen Behandlungen wegen (vermuteter) Lyme-Borreliose wird in der Publikation nicht präzise definiert, es wird nur von einer intravenösen und oralen antibiotischen Behandlung gesprochen. Art, Dosis und Behandlungsdauer werden also in der Publikation nicht angegeben.

Die Behauptung, dass die Therapieversager bei antibiotischer Behandlung auf Fehldiagnosen beruhen (nach Ansicht der Autoren „handelte es sich um keine durch antibiotische Behandlung zu beeinflussende Erkrankung“), ist eine willkürliche Behauptung und wird in der Publikation nicht erläutert oder begründet.

Die Bezugnahme auf die Serologie ist irrelevant, da die Serologie kein Beleg für die Existenz und das Ausmaß der Erkrankung (Lyme-Borreliose) darstellt. Die Serologie kann eine Lyme-Borreliose im Stadium III weder beweisen noch ausschließen

Bei der Diagnose der Lyme-Borreliose im Stadium III (chronische Lyme-Borreliose) ergibt sich das Handicap eines fehlenden positiven Krankheitsmarkers; es gibt keine medizinisch-technische Untersuchung, insbesondere keine Laboruntersuchung, die bei pathologischem Befund die Lyme-Borreliose Stadium III beweisen würde. Lediglich die Acrodermatitis chronica atrophicans und deren sicherer, klinischer und histopathologischer Nachweis sind beweisend für die Lyme-Borreliose im Spätstadium. Im Übrigen stützt sich die Diagnose Lyme-Borreliose auf sämtliche Vordaten, die Anamnese, den körperlichen Untersuchungsbefund und die Differentialdiagnose.

Da die Lyme-Borreliose im Stadium III meistens eine Multiorgan- bzw. Multisystemerkrankung darstellt, treten zahlreiche Symptome auf mit der Folge einer notwendigen umfassenden Differentialdiagnose. Jedes Symptom muss im Hinblick auf seine Ursachen (verschiedene Krankheiten) überprüft werden. Erst nach Ausschluss sämtlicher Krankheiten außer der Lyme-Borreliose kann die Diagnose einer LB Stadium III gestellt werden. Aktuell ist also die Diagnose der Lyme-Borreliose Stadium III weiterhin eine klinisch basierte Ausschlussdiagnose.


Wie gesagt, beweist ein pathologischer serologischer Befund lediglich die stattgehabte Infektion, nicht jedoch die Krankheit (Lyme-Borreliose). Allerdings ist eine im Krankheitsverlauf festgestellte Serokonversion d.h. primäres Auftreten von Antikörpern gegen Bb, ein positiver Lymphozytentransformationstest (LTT) und verminderte CD57 NK- Zellen Hinweise auf eine persistierende infektiöse Belastung.
Auch bei der antibiotischen Behandlung der Lyme-Borreliose im Stadium III ergeben sich erhebliche Probleme, da Bb über Mechanismen verfügt, sich der Antibiose zu erwehren. Eine adäquate Behandlung der Lyme-Borreliose im Stadium III gelingt daher in der Regel nur bei gleichzeitigem Einsatz von mehreren Antibiotika (mit verschiedenen Eigenschaften) in Form einer synchron kombinierten Langzeitantibiose. Diese Problematik wird in den Kap. 23.2 und 23.5 dargestellt.

Andererseits darf nicht verkannt werden, dass in der Vergangenheit allein wegen eines pathologisch serologischen Befundes antibiotisch behandelt wurde, obwohl keinerlei Beschwerden vorlagen. Grundsätzlich gilt, dass ein Patient ohne Beschwerden oder krankhafte Befunde im Hinblick auf die Lyme-Borreliose keiner Diagnostik und Therapie bedarf.

Für die Lyme-Borreliose beweisend sind das Erythema migrans (EM), die Acrodermatitis chronica atrophicans (ACA), die Lyme-Neuroborreliose mit entsprechendem Liquorbefund und der Erregernachweis bei Symptomen vereinbar mit LB. Diese Krankheitsmanifestationen kommen jedoch nur in einem Teil der Fälle vor: EM 50%. ACA 10% und Lyme-Neuroborreliose 15%. Die Sensitivität des Erregernachweises ist zu gering, so dass die Untersuchung nicht zur Routinediagnostik gehört. Diese Krankheitsmanifestationen sind also nur in einem geringen Teil der Fälle vorhanden, sie sind also für die Diagnose einer LB nicht obligat; ihr Fehlen schließt die LB nicht aus. Das Gleiche gilt auch für andere nichtbeweisende Symptome, die allerdings als krankheitstypisch aufgefasst werden: eine Lyme-Arthritis tritt bei 40%, neurologische Symptome in höchstens 15% und kardiale Manifestationen in etwa 3% auf. Auch diese „typischen“ Krankheitsmanifestationen können also für sich alleine die Lyme-Borreliose nicht beweisen und ihr Fehlen steht der Diagnose nicht entgegen.

Literaturverzeichnis

  1. Steere AC, Taylor E, McHugh GL, Logigian EL. The Overdiagnosis of Lyme Disease. JAMA 1993; (14)269:1812-6.